Projekte

Während die lateinische Cento-Dichtung in ihrer antiken Entstehung und nachantiken Rezeption gut erforscht ist, fehlte bislang eine systematische Aufarbeitung der griechischen poetischen Centones von ihren Anfängen in homerischen Reden, aristo­phanischen Dialogen und helleni­sti­schen Homerparodien bis zu eigen­ständigen Werken in Form von kleineren und umfangreichen ‚Flicken­teppichen‘ in der Kaiserzeit. Diese Lücke suchte das Projekt zu schließen, wobei die mit 2632 Versen längste und zugleich einzige Cento-Tragödie der Antike, der Christus patiens, im Mittelpunkt stand.
Als dichterische Centones wurden alle Werke angesprochen, die in Form von „Flickenstoffen“ (in wörtlicher Übersetzung des lateinischen Wortes cento,-onis und seines griechischen Lehnwortes κέντρων,-ωνις) konzipiert, d.h. aus unter­schiedlichen ‚Vers-Flicken‘ zusammen­gesetzt sind, die aus ihren ursprünglichen literarischen Kon­texten gelöst und dann zu einer neuen Text-Einheit – häufig, aber nicht notwendig mit neuem Thema – ‚zusammengenäht‘ worden sind. Da nicht nur ganze Werke, sondern oft nur einzelne Werkteile in dieser Technik verfasst wurden, bezeichnen die antiken Definitionen mit dem Begriff ‚Cento‘ keine Gattung, sondern eine Schreibweise, derer sich prinzipiell alle Gattungen bedienen können.
Cento-Dichtungen bedienen sich unterschiedlicher poietischer Verfahren, die unter Rück­griff auf den aristotelischen Begriff der Poiesis, der neben dem Prozess des Hervor­bringens vor allem das Hervorgebrachte selbst, das ‚Gemachtsein‘ von Lite­ratur, ins Zentrum der Betrachtung rücken. Je nach gewähltem poietischen Verfahren lassen sich in den intertextuellen Dialogen, die ein Cento mit den (an)zitierten Texten führt, ganz unterschiedliche Wirkungsabsichten erkennen, die von erzeugter Komik (Ausonius, Cento nuptialis) bis zu tragischem Ernst (Hosi­dius Geta, Medea) reichen, mit semantischen Verfremdungen arbeiten, Meta­i­sier­un­gen oder Allegorisierungen erkennen lassen und Funktionen von Parodie, Kontra­faktur, Pastiche und Satire über­­nehmen können.
Vor diesem Hintergrund verfolgte das Projekt sechs ineinandergreifende Zielsetzungen:

  1. Die online-Edition aller griechischer Cento-Dichtungen von der Antike bis in die byzantinische Zeit (mit Ausnahme der Homercentones), die als open-access edition den Rezipienten die Mög­lichkeit gibt, die intertextuellen Spuren in ihrer Gesamtheit oder geordnet nach ihren jeweiligen Referenztexten abzurufen und Hinweise auf Gattungs­bezüge, Sprecher und Werkzusammenhänge zu erhalten. Die online-Edition er­öffnet gerade bei längeren und aus unterschiedlichen Text­vorlagen zusammen­ge­setzten Centones wie dem Christus patiens besonders vielfältige Dar­stel­lungs­möglichkeiten, angefangen vom Auf­zeigen einzelner intertextueller Bezug­nahmen zu be­stimmten Werken und der Markierung von doppelter Intertextualität bei zitierten Versen, die ihrerseits bereits intertextuelle Spuren enthalten, bis zur Bereit­stellung von breiten motivischen, inhaltlichen oder formalen Kontexten, die über einen zitierten Vers mitgeführt werden können und mögliche Bedeutungs- und Erwartungs­horizonte aufzeigen. Im Fall des Christus patiens wurde ein neu-kollationierter Text erstellt, da die bisherigen Ausgaben zum Teil fehlerhaft sind und nicht alle Handschriften berücksichtigt haben.
  1. Die Kommentierung der griechischen Cento-Dichtungen, die nicht nur die Zitate und poetischen Ver­satz­stücke mit Hinweisen auf ihren ursprünglichen literarischen Kontext und die dortige (szenische) Verwendung und Sprecherzuordnung versieht, sondern Wir­kungs­­weisen von intertextuellen Bezügen sichtbar macht, kreative Ver­bin­dun­gen von Inno­vation und Tradition auf der poietischen Ebene des Textes aufgezeigt und Stil­brüche markiert. Für den bislang noch unkommentierten Christus patiens wurde eine neue Form der Kommentierung ausprobiert, die der Schreibweise des Textes auf einer Metaebene entspricht, insofern 21 Wissenschaftler eingeladen wurden, an kurzen Textabschnitten eigene Kommentierungsweisen theoretisch reflektiert und unabhängig voneinander vorzustellen.
  1. Alle Cento-Dichtungen werden von einer deutschen Übersetzung von Dirk Hansen begleitet, die für eine breitere Leserschaft ihre Zugäng­lichkeit erleichtern soll. Dies erscheint vor allem für den Christus patiens wichtig, dessen letzte Übersetzung im Jahr 1893 durch Ernst August Pullig vorgelegt wurde, um eine verstärkte Auseinandersetzung mit dieser Dich­tung in der Theo­logie, Germanistik, Ge­schichte, Komparatistik und Kunstgeschichte anzuregen.
  1. Ein von Bettina Bohle durchgeführtes Einzelprojekt befasste sich mit der Bestimmung und der Funktion literarischer Gattungen. Im Rahmen dieses Projektes wurde insbesondere angestrebt, die Charakteristika zu bestimmen, welche die Gattungszugehörigkeit eines spezifischen Textes ausmachen sowie die Übergänge zwischen Einzeltextreferenzen und Systemreferenzen in Hinblick auf die Gattungsfrage konkreter zu bestimmen.
  1. Im Rahmen eines weiteren Einzelprojektes befasste sich Manuel Baumbach mit der Poietik der griechischen Cento-Dichtungen. Das Hauptaugenmerk lag dabei auf einer vergleichenden Analyse der griechischen Centones, wobei auch in Abgrenzung zur lateinischen Cento-Dichtung die charakteristischen Elemente der griechischen-parodistischen Cento-Dichtung herausgearbeitet wurden.
  1. Das dritte Einzelprojekt, welches von Maurice Parussel bearbeitet wurde, beschäftigte sich mit der Rezeption des Christus patiens. Auf der Grundlage einer nachweisbaren weiten Verbreitung des Textes der Tragödie seit der Veröffentlichung der Editio princeps im Jahre 1542 wurden in dem Projekt die Einflüsse der zu großer Verbreitung gekommenen Tragödie auf das christliche Drama der Renaissance sowie auf verschiedenste Texte des von Konfessionskonflikten maßgeblich geprägten 17. und 18. Jahrhunderts untersucht.

Mit der Edition, Kommentierung und Übersetzung aller Zeugnisse grie­chischer Cento-Dichtungen von der Antike bis in die byzantinische Zeit und ihrer Präsentation in einer online-Edition mit open-access wird erstmals ein umfassender Blick auf die formalen und inhaltlichen Gestaltungen der grie­chi­schen Cento-Dichtung geworfen, was die vertiefte Analyse ihrer spezifischen Poiesis, Wirkungs­absichten und Rezeptionsweisen ermöglichen soll, die in den drei Monographien mit unterschiedlichen Schwerpunkten erfolgt.
Abgerundet wird das Projekt durch die Bereitstellung einer umfassenden Bibliographie zur antiken (griechischen) Cento-Dichtung. Das Projekt wurde Ende September 2023 abgeschlossen.