Rezeption des Christus patiens

In diesem Teilprojekt soll im Rahmen einer von Maurice Parussel verfassten Dissertationsarbeit die vielfältige und zudem äußerst heterogene Rezeption des Christus patiens unter Berücksichtigung der jeweilig relevanten gesellschaftlichen Kontexte beleuchtet werden.

Stand der Forschung
Die Untersuchungen zur handschriftlichen Überlieferung des Christus patiens, die die Grundlage für eine Auseinandersetzung mit der Rezeption das Dramas legen, sind nicht über eine bloße stemmatische Zusammenfassung der betreffenden Handschriften hinausgekommen (vgl. Dübner 1846, I-XVI, Tuilier 1969, 75-116). Die einzige Ausnahme bilden einige kodikologische Befunde (vgl. Briquet 1907, Tuilier 1969, 100-106), anhand derer sich für das Drama eine handschriftliche Überlieferungstradition in Europa bereits für den Beginn des 14. Jahrhunderts nachweisen lässt, weshalb ein unmittelbarer Einfluss der in dem Text transportierten Motive auf die sich gerade zu dieser Zeit zunächst in Italien und später in Mitteleuropa etablierende Gattung der Passionsliteratur als sehr wahrscheinlich erscheint.
Darüber hinaus ist der Einfluss der vielfach erwähnten (vgl. Sabbadini 1905, Rüdiger 1961), jedoch nie umfassend behandelten Zirkulation antiker griechischer Texte vor allem im italienischen Raum während des 14. Jahrhunderts in der Forschung bislang kaum beachtet worden. Auf diese Weise blieben insbesondere auch die möglichen Einflüsse der antiken Tragödie auf die sich zu dieser Zeit zuerst in Italien konstituierende Gattung der Passionsliteratur weitgehend auf eine Auseinandersetzung mit den Tragödien Senecas beschränkt (vgl. Full 2014). Zudem beschäftigen sich die zahlreichen Studien zu den mitteleuropäischen Passionsspielen, deren Entstehung insbesondere im deutschen Raum unmittelbar auf die Ausprägung der Gattung in Italien folgte, vornehmlich mit ihren gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnissen, ohne die Möglichkeit einer ideen- und motivgeschichtlichen Beeinflussung durch antikes Bildungsgut zu berücksichtigen (vgl. Kindermann 1957, 243-273, Köpf 1993, Hennig 2004).

Ziele der Dissertation
In Anbetracht dieses auffälligen Defizits in der bisherigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Christus patiens hinsichtlich seiner Einflüsse auf die Entwicklung und die motivische Ausprägung der europäischen Passionsspiele soll dieser ideen- und motivgeschichtlichen Entwicklung nachgegangen werden. Dabei sollen in erster Linie die zu Beginn des 14. Jahrhunderts in Italien und wenig später in Deutschland verstärkt einsetzenden Entwicklungen innerhalb der Gattung der Passionsspiele vor dem Hintergrund der ebenfalls zu dieser Zeit stattfindenden handschriftlichen Verbreitung des Christus patiens in Westeuropa hinsichtlich einer möglichen Beeinflussung dieser Entwicklung durch die in dem Drama transportierten Motive untersucht werden. Dabei soll das in der Tragödie transportierte Motiv einer menschlichen und in hohem Maße affektgeleiteten Maria, die als leidende Mutter mit dem grausamen Tod ihres Sohnes konfrontiert wird, als möglicher Ankerpunkt für eine Rezeption des Christus patiens in den Passionsspielen der Renaissance in den Blick genommen werden. In diesem Zusammenhang wird auch auf die mittelalterliche Genese der Gattung der von den Passionsspielen teilweise losgelösten Marienklage vor dem Hintergrund ihrer potentiellen Beeinflussung durch Elemente des Christus patiens eingegangen.
In einem ersten Schritt soll eine umfassende Rekonstruktion der handschriftlichen Über­lie­ferung des Christus patiens in Westeuropa von seinem ersten Auftauchen zu Beginn des 14. Jahrhunderts bis zur Veröffentlichung der editio princeps im Jahre 1542 unternommen werden. Diese wird sich zum Teil auf die kodikologischen Untersuchungen von Tuilier (1969, 75-121) stützen, wobei diese anhand moderner kodikologischer Untersuchungsmethoden hinsichtlich des Alters und der Herkunft der Handschriften überprüft werden sollen. Zudem soll die seit den Studien Tuiliers weit vorangeschrittene Erfassung der verschiedenen Handschriften bezüglich ihrer Herkunft und ihres Überlieferungsweges in die Rekonstruktion der Gesamtüberlieferung einbezogen werden. Dabei wird auf den neueren wissenschaftlichen Ansatz der historischen Netzwerkforschung zurückgegriffen (vgl. v.a. Wasserman 1994, Berkowitz/Wellmann 1998, Düring/Keyserlingk 2012), der im Zusammenhang mit dem für die Untersuchung elementaren wechselseitigen Beziehungsgeflecht der italienischen Humanisten der Renaissance bereits erste Ergebnisse liefern konnte (vgl. Furstenberg-Levi 2016). Da die Besitzverhältnisse der Codices zumeist bekannt sind, wird mit diesem Ansatz die Rekonstruktion der Überlieferungswege der Handschriften des Christus patiens verbessert.
Unter Einbeziehung der Ergebnisse zur handschriftlichen Überlieferung des Christus patiens in Westeuropa sollen in einem zweiten Schritt die potentiellen Einflüsse des Dramas auf die sich im 14. Jahrhundert in Italien und im 15. Jahrhundert in Mitteleuropa konstituierende Gattung der Passionsspiele in den Blick genommen werden. In diesem Zusammenhang soll zunächst die überregionale Entwicklung dieser Gattung im genannten Zeitraum untersucht werden, zumal eine solche Untersuchung trotz der zahlreichen Studien zur regionalen und volks- bzw. regionalsprachlichen Entwicklung dieser Gattung (vgl. Wackernell 1897, Bergmann 1972, Ruhdorfer 2015) bisher gänzlich fehlt. Im Anschluss wird schwerpunktmäßig auf jene Passionsspiele eingegangen werden, welche in Hinblick auf die in ihnen vorzufindende Motivik eine Anknüpfung an den Christus patiens nahelegen. Hierzu zählen etwa das bekannte Passionsspiel des Giuliano Dati, die beiden deutschen Passionsspiele von Frankfurt und Heidelberg oder das Redentiner Osterspiel. In diesem Zusammenhang wird auch auf das für den Christus patiens bestimmende Motiv der menschlich leidenden Maria eingegangen und die häufig in unmittelbarer Nähe zu den Passionsspielen entstandenen Marienklagen (vgl. Schönbach 1874, Wimmer 1968, Schulze 2004) mit in die Untersuchung einbezogen.
In einem dritten Schritt soll schließlich die weitere Rezeption des Christus patiens in den barocken Jesuitendramen untersucht werden, deren affektvolle Konzeption und anfängliche inhaltliche Ausrichtung sich unmittelbar aus den Passionsspielen speist. In diesem Zusammenhang sollen vor allem die frühen Jesuitendramen des 16. Jahrhunderts in den Blick genommen werden, für die das Leiden und Sterben Jesu ein zentrales inhaltliches Element bildet. Vor dem Hintergrund der wenig vorangeschrittenen Erforschung dieser frühen Stücke des Jesuitendramas, welches zumeist nur im Kontext seiner späteren Entwicklung im 17. Jahrhundert unter Einbeziehung von gänzlich anderen Thematiken beleuchtet wird (vgl. Flemming 1923, Valentin 2001, Erlach 2006), soll zunächst die ideengeschichtliche Entwicklung der Thematik des Leidens und Sterbens Jesu im Zuge der Entstehung des Jesuitentheaters aus dem Kontext der Passionsspiele untersucht werden. Sodann sollen auch in diesem Kontext einzelne Stücke einer genauen Analyse hinsichtlich ihrer potentiellen Beeinflussung durch den Christus patiens unterzogen werden, dessen Verbreitung insbesondere an den humanistischen Lehranstalten vielfach belegt ist. In diesem Zusammenhang soll auch ein Bezug zum lateinischen Christus patiens des Hugo Grotius hergestellt werden, dessen Rezeption des Dramas weit über die Adaption des Titels hinausgeht und der vielfach ganze Passagen der Tragödie ins Lateinische übersetzt. Anhand der Verarbeitung des Christus patiens durch Hugo Grotius in seiner Tragödie aus dem Jahre 1608 soll dabei abschließend im Vergleich zur Rezeption der Tragödie in den frühen Jesuitendramen die frühneuzeitliche Deutung des durch seine antiken Elemente geprägten Cento-Dramas vor dem Hintergrund der theologischen Auseinandersetzungen der Reformation untersucht werden, deren weiterführende Entwicklungen zugleich auch einen vorläufigen Endpunkt der literarischen Verarbeitung der Passion und somit auch der Rezeption des Christus patiens bilden.