„Menschen im Bergbau“ – Perspektiven auf Oral History, Industriekultur und Vermittlung, 7. und 8. Mai 2021


Veranstaltet von: Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets, Ruhr-Universität BochumDidaktik der Geschichte, Deutsches Bergbau-Museum Bochum/montan.dok

Organisiert von: Theresa Hiller, M.A./M.Ed. (Ruhr-Universität Bochum), Dr. Marcel Mierwald (Ruhr-Universität Bochum), Dr. Stefan Moitra (Deutsches Bergbau-Museum Bochum/montan.dok), Katarzyna Nogueira, M.A. (Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets). 

Oral History hat im Ruhrgebiet eine lange Geschichte und ist in gewissem Sinne dennoch eine Randerscheinung geblieben. Bereits das Pionierprojekt der bundesdeutschen Oral History, das Anfang der 1980er Jahre unter dem Titel „Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet“ (LUSIR) von Lutz Niethammer u. a. durchgeführt wurde, widmete sich auf Grundlage lebensgeschichtlicher Interviews den Erfahrungen der Arbeiterschaft im Ruhrgebiet vor, während und nach dem Nationalsozialismus. Gerade in methodisch-theoretischer Hinsicht wurden dabei Maßstäbe mit Blick auf das komplexe Verhältnis von historischer Erfahrung, Erinnerung und rückblickendem Erzählen gesetzt. Parallel dazu begannen zahlreiche Geschichtswerkstätten und historische Initiativen, durch die Arbeit mit Zeitzeug*innen dem Bemühen um eine „Geschichte von unten“ nachzukommen. Nicht zuletzt spielten in der Arbeit der Industriemuseen im Ruhrgebiet frühzeitig Zeitzeug*innen in mehrerlei Hinsicht eine Rolle dabei, die Arbeits- und Lebenswelt früherer Industriestandorte zu rekonstruieren. Als Museumsführer*innen wie auch als Träger*innen sozialer Erinnerung für Forschende und Kurator*innen wurden Zeitzeug*innen zu zentralen Protagonist*innen der historischen Vermittlung. Auch im schulischen Kontext hat die Auseinandersetzung mit Zeitzeug*innen immer mehr Berücksichtigung gefunden, von bundesweiten wie regionalen Geschichtswettbewerben bis hin zu zahlreichen lokalen Schulinitiativen, auch und gerade zur Industriegeschichte im Ruhrgebiet.

Bei all diesen Zugängen bleibt aber die Frage, welcher Stellenwert „Zeitzeug*innenschaft“ jeweils beigemessen wurde. Wer sind hier die Autor*innen welcher Geschichte? Welche Stimmen kommen zu Wort, welche bleiben ausgeblendet? Behalten die Befragten ein gewisses Maß an Agency (und ist dies im Sinne einer kritischen Geschichtsschreibung überhaupt wünschenswert?) oder werden sie zu Talking Heads reduziert, denen nurmehr eine affirmative, illustrierende oder emotionalisierende Funktion zukommt? Zu fragen wäre auch nach den unterschiedlichen Methoden und Rahmungen der Befragung und anschließenden Auswertung.

Vielleicht gerade im Nachklang des industriekulturellen Erinnerungsbooms im Jahr der letzten Zechenschließungen, 2018, mag es an der Zeit sein, auf die Praktiken der Oral History in der Industriekultur des Ruhrgebiets (und darüber hinaus) zu schauen. Ausgehend von den Ergebnissen des Projektes „Menschen im Bergbau“, das von 2015 bis 2018 zahlreiche lebensgeschichtliche Interviews zur Geschichte des Steinkohlenbergbaus in der Bundesrepublik gesammelt hat und das sich seitdem u.a. mit Fragen der Rezeption und Vermittlung von Zeitzeug*innenschaft im Ruhrgebiet beschäftigt, fragt die Online-Tagung nach methodischen und inhaltlichen Perspektiven in der industrie- und speziell bergbaubezogenen Geschichtskultur. Dabei wird es einerseits um eine Rückschau auf die vielfältigen Praktiken in der Arbeit mit Zeitzeug*innen gehen; andererseits werden Möglichkeiten einer zeitgemäßen Oral-History-Praxis diskutiert, nicht zuletzt auch mit Blick auf digitale Formen der Präsentation lebensgeschichtlicher Interviews. Zudem soll gefragt werden, welche inhaltlichen Verschiebungen sich in vierzig Jahren Erinnerungsarbeit ergeben haben und welche Themen sich für eine heutige Oral History in (vermeintlich) nach-industriellen Zeiten neu stellen. Schließlich wird es darum gehen, welche Chancen und Herausforderungen Zeitzeug*innen für das historisch-politische Lernen bereithalten. Dabei kann gerade der hier gewählte thematische Schwerpunkt des Steinkohlenbergbaus die Potentiale von Zeitzeug*innenberichten auch über die Thematiken von Diktaturerfahrungen und historischen Großereignissen hinaus verdeutlichen und mit Schlaglichtern auf Arbeit, Alltag, Strukturwandel, Migration u.a. neue Potenziale für den Geschichtsunterricht eröffnen.

Die vier leitenden Fragen der Veranstaltung lauten:

  1. Wo zeigen sich die Chancen und Grenzen (angewandter) Oral History in Vergangenheit und Gegenwart? Was sind ihre Perspektiven für das Ruhrgebiet?
  2. Welche Rolle spielten und spielen Zeitzeug*innen und ihre Erinnerungserzählungen für die Erinnerungskultur des Ruhrbergbaus? Wie zeigt sich der Umgang mit dem Span-nungsverhältnis zwischen Agency und Repräsentation: Wer erzählt welche Geschichte(n)? Wessen Perspektive wird (nicht) gehört?
  3. Welche Wirkmechanismen gehen mit der Medialisierung von Zeitzeug*innenschaft einher (u.a. Geschichtsschreibung, Museen, Film/TV)? Wie wird aus persönlichen Erzählungen die „kollektive Erinnerung“?
  4. Was sind die Potenziale von Oral History (des Steinkohlenbergbaus) und/oder der Auseinandersetzung mit Zeitzeug*innen im Schulunterricht?

Die Tagung richtet sich an Forschende, Akteur*innen der Geschichtskultur ebenso wie an Lehrer*innen. Teilnehmende Lehrer*innen erhalten im Anschluss ein Teilnahmezertifikat der Professional School of Education (PSE) der Ruhr-Universität Bochum und können die Veranstaltung somit als Fortbildung anrechnen lassen. Bedingung dazu ist die Teilnahme an dem Workshop „Digitales Lernen mit Zeitzeug*innen. Das Projekt MiBLabor“.

Die Veranstaltung findet digital statt.

Eine Anmeldung ist bis zum 15. April 2021 möglich. Die Zahl der Teilnehmenden ist, insbesondere für den Workshop am zweiten Programmtag, begrenzt. Teile der Veranstaltung werden aufgezeichnet und im Anschluss online veröffentlicht.
Die Anmeldung erfolgt über ein Onlineformular.

Programm
7. MAI 2021

10:00-10:45 Uhr
Begrüßung
Einführung in den Workshop
Vorstellung des Projekts „Menschen im Bergbau“

 
10.45-11:30 Uhr
Keynotes
Linde Apel (Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg): „Oral History, Zeitgeschichte und die Geschichte der Arbeit“
Steffi de Jong (Universität zu Köln): „Die Ära des/der Zeitzeug*in. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft“
Christiane Bertram (Universität Konstanz): „Zeitzeug*innen oder Interviewpartner*innen? Mit der Methode der Oral History historisch denken lernen“
 
14:30-16:30 Uhr
Podiumsgespräch I: Rückblicke auf Oral History im Ruhrgebiet - Inhalte, Methoden und Motivationen
Moderation: Stefan Moitra, Katarzyna Nogueira
Gesprächspartner*innen: Gabriele Voss (RuhrFilmZentrum e.V.), Alexander von Plato (Fern-Universität Hagen), Martin Rosswog (Freier Fotograf), Jutta de Jong (Historikerin)
 
8. MAI 2021
9.00-12:00 Uhr
Workshop: Digitales Lernen mit Zeitzeug*innen. Das Projekt MiBLabor
Moderation: Theresa Hiller, Marcel Mierwald
Im Rahmen des Workshops wird die Lernplattform MiBLabor vorgestellt, die mit Oral History-Interviews ehemaliger Beschäftigter aus dem Steinkohlenbergbau arbeitet. Die Teilnehmenden erhalten die Gelegenheit, sich aufgabengeleitet mit der Lernplattform auseinanderzusetzen. Daran anschließend diskutieren wir Möglichkeiten und Herausforderungen des kompetenzorientierten Arbeitens mit Oral History-Interviews.
 
13:30-15:30 Uhr
Podiumsgespräch II: Oral History und Zeitzeugenschaft im Ruhrgebiet heute – Präsentationsformen und „Public Oral History“
Moderation: Stefan Moitra, Katarzyna Nogueira
Gesprächspartner*innen: Jana Golombek (LWL-Industriemuseum), Ulrich Kind (Erich-Fried-Gesamtschule Herne), Beate Schlanstein (WDR-Fernsehen), Bengü Kocatürk-Schuster (DOMiD)
 
16:00-18:00 Uhr
Abschlussdiskussion
Moderation: Michael Farrenkopf (Deutsches Bergbau-Museum Bochum)
Leitkommentare: Achim Saupe (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung),
Juliane Czierpka (Ruhr-Universität Bochum)