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Medizinisches Wissen und plurale Kultur

Die græco-islamische Medizin (ṭibb-i yūnānī, Unani Medicine) und ihre Darstellung in Südasien

Projektbeschreibung

Die græco-islamische Medizin, auf Urdu und Hindi heute meist yūnānī ṭibb, auf Englisch Unani Medicine genannt, hat eine lange und wechselvolle Geschichte in Südasien. Sie gehört in Indien heute wie Ayurveda, Siddha, Yoga und Homöophathie zu den offiziell anerkannten Formen der Medizin, wird an verschiedenen staatlichen und privaten Institutionen in Indien wie in Pakistan und Bangladesh gelehrt und praktiziert und verfügt nach wie vor über eine große Zahl lokaler Therapeuten, die zum Teil mit staatlicher Anerkennung tätig sind. Gegenstand des Projektes ist die neuzeitliche Entwicklung dieser Form der Medizin und ihrer Darstellung in Südasien, die sich von Anfang an bei den dortigen Muslimen unter den Bedingungen einer pluralen Text- und Bildkultur vollzog. In aktiver Auseinandersetzung mit den konkurrierenden indischen und europäischen Medizin-Traditionen wurde sie über lange Zeit durch die muslimischen Herrscher und ihre Höfe gefördert, fand in der Kolonialzeit Eingang in den Kanon der „nationalen“ Formen der Medizin und entwickelt sich seitdem im internationalen Feld der Complementary and Alternative Medicine (CAM), deren Förderung seit Anfang der 2000er Jahre zur offiziellen Politik der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehört.

Das Projekt untersucht die persische Literarisierung der Medizin im Rahmen der græco-islamischen Medizin in Südasien, in der Naturwissenschaft, Ethik, Erotik und Hygiene eine untrennbare Verbindung eingehen, die in der persophonen höfischen Kultur des Mogulreiches verankert blieb, sowie den Transfer zum Urdu, der sich im Laufe des 19. Jhs. mit der massenhaften Verbreitung gedruckter Bücher und Zeitschriften vollzog und im 20. Jahrhundert dazu führte, dass nunmehr Übersetzungen ins Urdu gänzlich an die Stelle der persischen medizinischen Werke traten. Die Medizin-Literatur wurde zu einem bedeutenden Bestandteil der literarischen Kultur des Urdu. Sie bildete die Voraussetzung für die Wahrnehmung und Etablierung der indischen Medizinformen als „nationaler“ Medizin.

Die bisherigen Ergebnisse des Projektes lassen erkennen, dass sich die Entwicklung der Medizinkultur unter britischer Herrschaft keineswegs auf den einfachen Nenner einer klaren Dichotomie indischer Medizin und britischer Schulmedizin oder eines anti-kolonialen Widerstandes „subalterner“ Gruppen bringen lässt, und dass die Grenzen zwischen den verschiedenen Formen der Medizin weit durchlässiger waren als weithin angenommen. Gegenüber Ansätzen, welche sich zur Deutung der Synthesen einheimischer und europäischer Kultur am Konzept der „Hybridität“ orientieren, wird hier eine Beschreibung anhand des Modells der „strukturellen Pluralität“ (Mukherji, Ernst) bevorzugt, die es gestattet, das jeweilige Gewicht der Komponenten für die kulturelle Synthese differenzierter zu untersuchen. Der historisch-literarische Kernbereich im Zentrum von Lehre und Praxis der græco-islamischen Medizin stellt sich dabei als ein „Archiv“ dar, das die Sammlung von medizinischen und literarischen Textgattungen in unterschiedlichen Sprachen und Medien ebenso umfasst wie die durchaus wandelbaren Regeln ihrer Deutung und Selektion durch individuelle und kollektive Akteure, zu denen neben staatlichen Behörden auf zentraler und regionaler Ebene auch private pharmazeutische Unternehmen als Träger von Produktion, Werbung und Ausbildung gehören.

Prof. Dr. Stefan Reichmuth  (Projektleiter)