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3.5       Die Evolution der Angiospermenblüte

3.5.1       Euanthientheorie und Pseudanthientheorie

3.5.2       Die Blütenhülle

3.5.3       Mikrosporophyll und Androeceum

3.5.4        Makrosporophyll und Gynoeceum



3.5 Die Evolution der Angiospermenblüte

3.5.1 Euanthientheorie und Pseudanthientheorie

 

Für die Phylogenie der Angiospermenblüte gibt es zwei konkurrierende Vorstellungen. Nach der einen ist die Angiospermenblüte aus einem zwittrigen Sporophyllstand entstanden, der in etwa dem von Selaginella entspricht. Die Blüte war nach dieser Vorstellung in ihrer ganzen Evolution ein einachsiges (d.h. aus einer einzigen unverzweigten Sproßachse bestehendes) blütenähnliches Gebilde. Nach dem zapfenartigen Aufbau der Ausgangsform wird diese Theorie auch Strobilus-Theorie genannt, weil es in der ganzen Evolution immer mehr oder weniger blütenähnliche Gebilde waren, ist diese Theorie unter der Bezeichnung Euanthientheorie allgemein bekannt.

 

Bei der Entwicklung der Gymnospermen wurden im Zusammenhang mit dem Übergang zur Windblütigkeit männliche und weibliche Sporophylle auf getrennte Zapfen, d.h. eingeschlechtige   männliche und weibliche Blüten verteilt. Besonders bei den Gnetatae ist zu beobachten, daß diese eingeschlechtigen Zapfen zu zwittrigen Zapfenständen zusammengezogen werden. Dabei wird die Zahl der Sporophylle in einem Zapfen stark reduziert und der zwittrige Zapfenstand kann einer Blüte sehr ähnlich werden. Nach der Pseudanthientheorie ist die Evolution der Angiospermenblüten nicht direkt aus selaginellaartigen, einachsigen Systemen erfolgt, sondern auf dem Umweg über solche zwittrigen Zapfenstände. Durch fortschreitende Reduktion der eingeschlechtigen Zapfen des Zapfenstandes ist wieder ein System entstanden das unverzweigt ist. Die Sporophylle, die ursprünglich an Seitenachsen des Zapfenstandes saßen, sind durch Reduktion der Seitenachsen an die Achse des Zapfenstandes verlagert, so daß sekundär wieder ein unverzweigter Sporophyllstand begrenzten Wachstums, d.h. eine Blüte entsteht.

 

Die Pseudanthientheorie geht auf den Systematiker Richard von Wettstein zurück, der in logischer Konsequenz die Angiospermenblüte als "primäres Pseudanthium" bezeichnet und Pseudanthien, die innerhalb der Angiospermen durch Aggregation von Blüten entstehen als "sekundäre Pseudanthien" bezeichnen muß.

3.5.2 Die Blütenhülle

 

Die ursprüngliche Blütenhülle besteht aus sterilen Blättern, die die Sporophylle umgeben, so wie das bei den "Blüten" der Bärlappe zu beobachten ist. Mit dem Übergang zur Zoophilie kommt der Blütenhülle aber nicht mehr nur eine Schutzfunktion zu, die sich vorwiegend auf die Knospenphase beschränkt. Jetzt übernimmt die Blütenhülle Schaufunktion und wird zum Anlockungssignal für die Bestäuber. Das primäre Signal könnte dabei die gelbe Farbe des Pollens und der Staubbeutel gewesen sein. Sie dient ursprünglich zum Schutz des Mikroprothalliums vor mutagener UV-Strahlung und ist deshalb bereits bei den windblütigen Gymnospermen allgemein anzutreffen.

 

Die Blütenhülle kann diesen Anlockungseffekt auf verschiedenen Wegen steigern. Zum einen kann durch gelbe, möglichst auch noch verbreiterte Filamente mehr Pollen vorgetäuscht werden als tatsächlich da ist. Zum anderen kann durch eine geeignete Kontrastierung der Blütenhülle die Signalwirkung des Pollens verbessert werden. Diese beiden Möglichkeiten lassen auch bereits die beiden Wege zur Entstehung der Blütenhülle erkennen. Die ungegliederte Blütenhülle kann in der Phylogenie entweder aus umgestalteten Hochblättern unterhalb der Sporophylle entstehen, oder sie kann aus umgewandelten, steril gewordenen Staubblättern entstehen. Bei gegliederten Blütenhüllen können sich im Prinzip entweder alle Teile aus dem Hochblattbereich entwickeln, oder sie entstehen aus sterilen Staubblättern. Als dritte Lösung ist auch denkbar, daß die äußere Blütenhülle aus dem Hochblattbereich und die innere Blütenhülle aus dem Staubblattbereich entsteht. Häufig ging man in der Vergangenheit davon aus, daß sich die äußere Blütenhülle (der Kelch) aus dem Hochblattbereich herleitet und die innere Blütenhülle (die Krone) aus dem Androeceum. Solche Ableitungen schienen insbesondere dort erforderlich, wo der einzige Kreis von Staubgefäßen oder der äußere Kreis von zwei Kreisen (Obdiplostemonie)  vor den Kronblättern steht und damit die Alternanzregel verletzt. In solchen Fällen besteht nicht selten ein besonders enger ontogenetischer Zusammenhang zwischen der Anlegung des Petalums und dem davorstehenden Staubgefäß. Manchmal entstehen beide aus einer einzigen Anlage, die sich in der Ontogenie sekundär aufspaltet (Dédoublement). Man konnte somit Staubgefäß- und Kronblattwirtel als einen einzigen Wirtel auffassen und das Blütendiagramm wurde ohne Einschiebung von fehlenden (im Diagramm durch Kreuzchen symbolisierte) Staubgefäße wieder regelgerecht.  Es gibt allerdings auch andere Lösungen für dieses Problem. Vernünftigerweise kann nur erwartet werden, daß Äquidistanz- und Alternanzregel gelten, wenn die Größen- und Entwicklungsunterschiede zwischen den aufeinanderfolgenden Organen unwesentlich sind. Das ist aber gerade in der Blüte häufig nicht der Fall und man muß sich eher wundern, warum diese Regeln so häufig eingehalten werden als warum sie gelegentlich nicht anwendbar sind.

 

Die primitive Blütenhülle ist nach allgemeiner Auffassung schraubig angeordnet, als abgeleitet gilt die wirtelige (zyklische) Anordnung. Grund für diese Annahmen ist der Umstand, daß praktisch alle Arten, die als Vorfahren der Blütenpflanzen infrage kommen eine schraubige Blattstellung haben. Gegliederte Blütenhüllen, die aus schraubigen und wirteligen Bereichen zusammengesetzt sind, werden als hemizyklisch bezeichnet. Auch wirtelig stehende Blütenhüllen oder solche die wenigstens auf den ersten Blick wirtelig zu sein scheinen, können noch unterschiedlich starke Anzeichen der ursprünglichen schraubigen Situation aufweisen. Dies ist nicht selten an der Knospenlage erkennbar. Man unterscheidet   drei Grundtypen der Knospenlage, die offene, die klappige und die dachige Knospenlage. Nur bei der dachigen Knospenlage überdecken sich die Ränder der Hüllblätter gegenseitig, und man spricht dann von Knospendeckung. Die drei Formen der dachigen Knospendeckung sind qinkunzial, cochleat und contort.

Die quinkunziale Knospenlage (Abb. 35 ) zeigt noch deutlich die ursprüngliche schraubige Stellung. Obwohl alle Organe auf den ersten Blick auf einem Kreis zu stehen scheinen, decken die Ränder genau so, wie bei schraubiger Anordnung die äußeren Blätter die inneren decken würden. Von den beiden äußersten Blättern eines fünfzähligen Wirtels sind von außen beide Ränder zu sehen, vom dritten Blatt ist ein Rand zu sehen und der andere nicht, und von den beiden inneren Blättern sind beide Ränder verdeckt. In der Ontogenie ist meist erkennbar, daß die Blätter des Wirtels in schraubiger Folge nacheinander angelegt werden. In gewisser Weise handelt es sich also hier noch um "Scheinwirtel".

 

Bei der cochleaten Knospendeckung (Abb. 35 ) sind nur vom äußersten Blatt beide Ränder zu sehen und vom innersten sind beide Ränder verdeckt. Von den dazwischen stehenden ist jeweils ein Rand verdeckt und der andere zu sehen, der verdeckte Rand ist dabei für alle Blätter übereinstimmend der linke oder der rechte. Ist das äußere Blatt des Wirtels der Abstammungsachse zugewandt, so spricht man von cochleat absteigender Deckung. Ist das äußere Blatt dagegen von der Abstammungsachse abgewandt, so wie die Deckung als cochleat aufsteigend bezeichnet. Die cochleate Deckung kann als Zwischenstufe von der schraubigen oder quinkunzialen Stellung hin zur contorten Knospenlage aufgefaßt werden.

 

Bei der contorten (gedrehten) Knospendeckung (Abb. 35 ) ist von allen Blättern ein Rand sichtbar und der andere verdeckt. Je nachdem welcher Rand sichtbar ist, kann man links gedrehte und rechts gedrehte Knospen unterscheiden. Die contorte Knospendeckung ist nur bei einer streng wirteligen Stellung möglich.

 

Man kann imbrikate, valvate und aperte Knospenlage ebenfalls in eine merkmalsphylogenetische Reihe stellen, bei der die imbrikate Knospenlage als am ursprünglichsten aufzufassen ist. Die valvate Knospenlage ist nur bei exakter Wirtelstellung (aber auch bei einer spiraligen Anlegungsfolge!) möglich und deshalb meist abgeleiteter als die  imbrikate Knospenlage. Die aperte Knospenlage ist nur möglich, wenn der Schutz durch weiter außenliegende Hüllen (u.U. auch aus dem Hochblattbereich) erfolgt und ist daher als am stärksten abgeleitet zu betrachten. Bei der aperten Knospenlage kann aber aus der Lage der fertigen Organe weder zwischen wirteliger und schraubiger Stellung noch zwischen wirteliger und schraubiger Anlegungsweise unterschieden werden. Entsprechend wird hier mit einem Wechsel der Schutzfunktion auf weiter außen liegende Teile der Blüte oder den Hochblattbereich argumentiert, wenn die aperte Knospenlage als abgeleitet betrachtet wird. Die drei Formen der Knospenlage sind daher phylogenetisch schwieriger in eine Reihe zu bringen als die drei Formen der Knospendeckung.

 

Bei gegliedertem Perianth kann die Knospendeckung in Kelch und Krone verschieden sein. Dabei   zeigt der Kelch in der Regel eine ursprünglichere Knospendeckung (d.h. der schraubigen Stellung ähnlichere Stellung) als die Krone. Bei offener oder klappiger Knospenlage kann an der entwickelten Blüte nicht mehr zwischen der schraubigen und der wirteligen Anlegungsfolge unterschieden werden. Daher kann auf einen valvaten Kelch ohne weiteres eine schraubige Krone   folgen, ohne daß dies im Widerspruch zu der Vermutung steht, die äußeren Wirtel seien der schraubigen Anordnung näher als die inneren.

3.5.3 Mikrosporophyll und Androeceum

 

Das einzelne Stamen wird im allgemeinen als Staubblatt bezeichnet und mit einem Mikrosporophyll homologisiert. Da in den meisten Blüten das einzelne Staubblatt genau die Stellung einnimmt, die nach der Alternanz- und der Äquidistanzregel ein Blatt einnehmen sollte, scheint diese Homologisierung gut gesichert, was sie aber durchaus nicht ist.

 

Das typische Mikrosporophyll der Angiospermen hat an jedem Blattrand zwei lange, parallel verlaufende   Sporangien, während es bei den Gymnospermen vielfach 2 (Pinaceae), seltener 3 (manche Ephedra-Arten) oder mehr sind (6-10 bei Araucariaceen; bei Cycadeen viele, die zu Synangien zusammengefaßt sein können). Morphologisch ist das Mikrosporophyll der Pinaceen dem der Angiospermen am ähnlichsten. Die beiden Pollensäcke befinden sich auf der Unterseite des Mikrosporophylls, an der Spitze läuft es in einen sterilen Abschnitt aus. Wenn die Vorfahren der Angiospermen derartige Mikrosporophylle besessen haben sollten, wäre für die Angiospermen ein Staubblatt mit einem deutlichen Konnektivfortsatz (wie es bei vielen Magnoliales und Dioscoreales, z.B. Paris quadrifolia vorkommt) ursprünglich. Das Angiospermenstaubblatt würde sich von dem der Gymnospermen vor allem dadurch unterscheiden, daß es im   ursprünglichen Fall immer vier Sporangien trägt.

 

Nach dem sogenannten "Diplophyllie-Konzept" ist das Staubgefäß der Angiospermen ein umgewandeltes Schlauch- oder Schildblatt. Dieses Konzept kann gut erklären, warum das Staubblatt immer vier Sporangien trägt und warum manchmal vorkommende Verbindungen zwischen einzelnen Pollensäcken ausschließlich apikal und basal vorkommen, wobei die apikale Verbindung sogar noch meist in Bezug auf die Blüte in tangentialer Richtung, die basale Verbindung dagegen in radialer Richtung verläuft. Da sich die Karpelle vieler apokarper Angiospermen wie Schlauch- oder Schildblätter entwickeln, bot das Diplophylliekonzept auch ein einheitliches morphogenetisches Prinzip für Staubblätter und Fruchtblätter an. Das Diplophylliekonzept wird heute weitgehend abgelehnt, ontogenetische Untersuchungen zu seiner Stützung haben sich als falsch erweisen. An der Vorstellung, das einzelne Stamen entspräche einem Blatt (daher der Begriff   Staubblatt") wird in der Regel jedoch festgehalten.

 

Es ist aber auch denkbar, daß das Staubgefäß gar nicht einem ganzen Blatt homolog ist, sondern daß mehrere Staubgefäße auf der Unterseite eines Mikrosporophylls inserieren, ähnlich wie dies bei den Cycadeen der Fall ist. Durch Reduktion des Blattes und frühzeitiger Anlegung der Staubgefäße könnte in der Phylogenie eine Situation wie bei der Pfingstrose entstehen. Hier steht an der Stelle, an der nach den Stellungsregeln ein Blatt zu erwarten ist, aber eine ganze, aus einem Primordium entstehende Gruppe von Stamina. Innerhalb einer solchen Gruppe von Staubgefäßen erfolgt die Ausgliederung zentrifugal. Das einzelne Staubgefäß genügt damit nicht mehr der Definition eines Blattes. Durch Reduktion der Stamina pro Mikrosporophyll auf ein einziges käme nach dieser Vorstellung das einzelne, an der Stelle eines Blattes stehende, aber nicht einem Blatt homologe Stamen zustande. Solche Fälle ontogenetisch sekundärer Polyandrie könnten phylogenetisch durchaus ursprünglich und damit phylogenetisch primär sein. Das Staubgefäß ist nach dieser Vorstellung nicht einem ganzen Blatt, sondern nur einem gestielten Synangium homolog, das auf einem Blatt steht.

 

Fälle in denen bei zentrifugaler Ausgliederungsfolge der einzelnen Stamen keine getrennten Primärhöcker erkennbar sind, sondern von Anbeginn an ein geschlossener Ringwall vorliegt, ist die der Deutung schwieriger. Man kann sich hierbei eine frühe seitliche Verbindung der einzelnen Primordien eines polyandrischen Androeceums zu einem Ringwall vorstellen und den Ringwall so auf die Verhältnisse bei Paeonia zurückführen. Solche Ringwälle treten auch in den frühen Entwicklungsstadien sympetaler Kronen auf und können als typisch für einen bestimmten Typ der Verwachsung der Blattorgane eines Wirtels betrachtet werden (siehe hierzu "frühe" und "späte" Sympetalie im Abschnitt Blütenhülle). Durch Reduktion der Anzahl der auf einem solchen Ringwall gebildeten Stamen kommt man zu einem Ringwall, auf dem nur eine einzige Reihe von Stamen ausgebildet ist.

3.5.4 Makrosporophyll und Gynoeceum

 

Für die Evolution angiokarper (geschlossener) Karpelle wurde bisher meist der notwendige Schutz vor den beißenden Mundwerkzeugen bestäubender Käfer angenommen. Das ist aber nicht unbedingt richtig. Zum einen ist der Schutz der Samenanlagen durch das Karpell zur Zeit der Blüte unbedeutend und Käfer könnten es genau so leicht und mit gleichem Nährstoffgewinn   auffressen wie die Samenanlagen, zum anderen ist es durchaus unklar, ob Käfer wirklich die ersten Blütenbesucher waren. Hier wird deswegen eine andere Hypothese für die Evolution geschlossener Karpelle vorgeschlagen.

 

Nach außen gerichtete, frei exponierte Bestäubungstropfen, wie sie bei den Gymnospermen am leichtesten bei Taxus beobachtet werden können, sind aus physikalischen Gründen in ihrer Größe begrenzt und damit in ihrer Wirkungsweise limitiert. Durch Erhöhung der Viskosität durch gelöste Zucker ist eine Stabilisierung und damit auch Vergrößerung in begrenztem Umfang möglich, größere Tropfen würden aber ähnlich wie an einem tropfenden Wasserhahn bald abtropfen ( Abb. 31 , 35 , 35a ).  Kommt die Samenanlage jedoch in eine umgewendete Position, wie dies z. B. durch das Beibehalten einer eingerollten Knospenlage möglich ist, so werden die Bestäubungstropfen auf dem Karpellrand abgestützt und können deutlich größer werden als bei freier Exposition ( Abb. 31 , 35 , 35b ). Es ist jetzt auch möglich, daß die Auffangfläche durch Sekrete des gesamten Karpellrandes vergrößert wird (Abb. 31 , 35 , 35c ). Es kann nun aber passieren, daß das Pollenkorn nicht in die Mikropyle eingesaugt wird, sondern auf dem Karpellrand haften bleibt. In diesem Fall ist es dann notwendig, daß die Pollenschlauchzelle, die bisher direkt in den Nuzellus einwachsen konnte, zunächst in die Mikropyle hineinwächst. Es kommt damit zur Erfindung des Pollenschlauches. Eigentlich müsste man vermuten, daß es in der Evolution Organismen gegeben hat, bei denen der Pollen außerhalb der Samenanlage gekeimt ist und der Pollenschlauch innerhalb der Samenanlage noch Spermatozoide entläßt. Rezent gibt es solche Organismen offenbar nicht, und bei Fossilien kann man nur an der Befruchtungskammer erkennen, ob Spermatozoidbefruchtung vorlag oder nicht. Der Ort der Pollenkeimung ist bei gymnospermen Fossilien in der Regel nicht feststellbar.   Beim Wachstum wird der Pollenschlauch   durch Resorption von Zuckern ernährt, die ursprünglich vielleicht als Verdunstungsschutz gedachte waren.   Zuckerhaltige Bestäubungstropfen und Narbensekrete dienen bei vielen rezenten Gymnospermen und Angiospermen auch als Keimungsstimulus für die Pollenkörner.

 

Während bei mehr oder weniger geöffnetem Karpell ein Pollenschlauch nur die Samenanlagen eines Karpellrandes erreichen kann (Abb 31 , 35 , 35c ), ist bei einer eingerollten Lage, bei der sich die Ränder berühren, ein Wechsel auf die andere Seite des Karpells möglich (Abb. d). Eine derartige eingerollte Lage kann sich z.B. durch Beibehaltung einer gerollten Knospenlage ergeben. Die Zahl der für einen Pollenschlauch erreichbaren Samenanlagen erhöht sich damit deutlich und damit auch der Reproduktionserfolg. Solche ventral auf dem geschlossenen Karpell befindlichen Narben finden sich bei den Angiospermen z.B. bei der Gattung Saruma (Aristolochiaceae)oder bei Winteraceen. Erst wenn durch Vermehrung der Karpelle die Bauchnaht mehr und mehr verdeckt wird, ist es erforderlich, die Pollenauffangfläche auf die Karpellspitze zu verlagern. Im letzten Schritt entsteht so die distale Narbe der Angiospermen ( Abb. 31 , 35 , 35e ).

 

Mit der Erfindung der Narbe ist die Trefferwahrscheinlichkeit für das einzelne Pollenkorn entscheidend verbessert worden. Es muß jetzt nicht mehr die einzelne Samenanlage getroffen werden, sondern es genügt, den Rand oder die Spitze des Makrosporophylls, das bei den Angiospermen als Karpell bezeichnet wird, zu treffen. Diese Spitze kann sogar nach Bedarf vergrößert werden. Durch Verlagerung des Pollenschlauches in das Innere des geschlossenen Karpells oder (bei syncarpen Gynoeceen) in das Innere eines Griffelkanals werden für den Pollenschlauch Strecken überwindbar, die bei Nacktsamern unvorstellbar sind.

 

Das Narbensekret ist ebenso wie der Bestäubungstropfen eine willkommene Nahrungsquelle für   Insekten. In Zwitterblüten wird durch solche Narbensekret leckende Insekten fast zwangsläufig auch Pollen von Blüte zu Blüte übertragen. Damit ist der Ausgangspunkt für eine Evolution zu   zoophilen Blüten gegeben. Da auch bei Insekten mit saugend leckenden Mundwerkzeugen Pollen aufgenommen werden kann, ist ein Übergang von primitiven Nektarblumen zu Pollenblumen leicht vorstellbar. Wegen der viel präziseren Pollenübertragung durch die Insekten konnte die produzierte Pollenmenge jedoch bald stark reduziert werden, und die Bestäuber waren wieder auf andere Nahrungsquellen angewiesen. Dazu entwickelten die Pflanzen Nektarien am Grund der Blüten und verhinderten damit gleichzeitig, daß der Pollen durch Blütenbesucher wieder von den Narben abgeleckt wurde.

 

Diese Evolution hin zu zoophilen Blüten verlief offenbar rasch und vollständig. Das kann daraus geschlossen werden, daß offenbar alle heute noch existierenden windblütigen Angiospermen sekundär aus tierbestäubten Formen entstanden sind. Die Rückkehr zur Anemophilie wurde dabei vielfach durch Lebensbedingungen erzwungen, die für die Bestäuber nicht förderlich waren. Dazu gehört z.B. wenn die Blütezeit in eine Jahreszeit fallen mußte, in der die Bestäuber aufgrund ihres eigenen Lebenszyklusses noch nicht da waren, wie das bei Winterblühern oder Arten die im zeitigen Frühjahr blühen der Fall ist.

 

Die hier vorgestellte Entwicklungsreihe ist hypothetisch. Bekannt ist das Saruma-Karpell, das den vorletzten Schritt der Reihe repräsentiert und bekannt ist weiterhin auch, daß der Nucellus mindestens bei einigen Angiospermen noch einen deutlichen Tropfen sezerniert, der als Remineszenz an den Bestäubungstropfen der Gymnospermen verstanden werden kann. Seine Funktion kann nicht mehr dieselbe wie bei den Gymnospermen sein, wozu er dient ist aber bislang unklar.

                                                                                                                                

Aus dem hier vorgeschlagenen Modell der Evolution des geschlossenen Karpells ergibt sich zwangsläufig, daß apokarpe Gynoeceen mit mehrsamigen Balgfrüchten und anatropen Samenanlagen als ursprünglich betrachtet werden.   Besteht das Gynoeceum aus wenigen Karpellen, so ist es möglich, daß die den Pollenschlauch leitende Ventralnaht mehrer Karpelle so zusammenstößt, daß ein Pollenschlauch von einem Karpell zu einem anderen überwechseln kann. Damit kann die Zahl der von einem Punkt aus erreichbaren Samenanlagen nochmals wesentlich vergrößert und der Bestäubungserfolg damit deutlich verbessert werden. Coenosynkarpe Gynoeceen mit zentralwinkelständiger Plazentation werden daher allgemein als die ursprünglichsten verwachsenen Fruchtknoten betrachtet.

 

Bei der weiteren Evolution der Frucht spielen unterschiedliche Faktoren eine Rolle. Bei allen Entwicklungen wird jedoch entweder der ununterbrochener Weg für den Pollenschlauch von der Narbe bis zur Mikropyle auf einer Oberfläche beibehalten, oder der Pollenschlauch überwindet einen mehr oder weniger großen Zwischenraum, in dem er durch eine Flüssigkeit hindurch wächst. Die wichtigsten Abwandlungen lassen sich als Proportionsverschiebungen in einem coenosynkarpen Gynoeceum mit zentralwinkelständiger Plazentation verstehen.

 

In einem einzelnen Karpell eines coenosynkarpen Gynoeceums folgen charakteristische Zonen aufeinander.