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Stefan Karsch
ENTMACHTUNG DES SOWJETS STATT STURZ DER REGIERUNG Die Oktoberrevolution in Woronesch


Wohl kein Ereignis der russischen Revolution 1917 ist später derart mit mythischen Erzählungen verdeckt worden wie der Sturm auf das Winterpalais in Petrograd am 25. Oktober. Die Verfälschung der Geschichte begann schon mit den Feierlichkeiten auf den Straßen Petrograds zum ersten Jahrestag 1918, in denen die angeblich heroischen Ereignisse nachgespielt wurden, fand einen weiteren Meilenstein in Eisensteins Film "Oktober" zum 10. Jahrestag der Revolution 1927 (eher ein fiktionaler Spielfilm als eine historisch exakte Rekonstruktion) und erreichte ihren absurden Höhepunkt in dem offiziellen Ge-schichtswerk des entwickelten Stalinismus, dem "Kurzen Lehrgang" der Geschichte der Partei von 1936. Längst haben Forscher hinter die Fassade der sowjetischen Mythen geblickt und die Geschehnisse in Petrograd deutlich präziser wiedergegeben: einen Sturm aufs Winterpalais, der diesen Namen verdienen würde, hat es nicht gegeben, weil sich keine Verteidiger der Regierung mehr fanden, die den Einfluss auf die Kasernen schon zwei Tage vorher verloren hatte. Der ganze Aufstand war schlecht organisiert, was zu erheb-lichen Verzögerungen bei der Absetzung der Regierung führte. Von einer allgemeinen Volkserhebung kann nicht die Rede sein, das Unternehmen beschränkte sich auf einige wenige Straßenzüge im Zentrum, in den übrigen Stadtteilen ahnte die Bevölkerung nicht einmal etwas von den Ereignissen - Theater und Konzerthäuser waren gut besucht, die Zuschauer gingen in aller Ruhe nach Hause. Weniger als 5% der Arbeiter und Soldaten der Stadt waren an den Aktionen beteiligt.
Nach der Besetzung des Palastes stießen zwar größere "Volksmassen" hinzu, doch war nicht die proletarische Revolution ihr Ziel als vielmehr die Weinkeller des Zaren, die noch tage- wenn nicht (ihrer Größe wegen) wochenlang nach der Beset-zung des Palastes geplündert wurden - mit allen leicht vorstellbaren Folgen. Wenn auch die Ereignisse in Petrograd Ende Oktober 1917 von Historikern gut rekonstruiert wurden, beginnt erst in den letzten Jahren das Interesse an den Provinzstädten zu wachsen. Auch hier ist viel Entmythologisierung zu leisten. Von dem "triumphalen Siegeszug" der Bolschewiki durch das russische Reich, den die Sowjetforschung in ihren verfälschenden Darstellungen proklamierte, wird am Ende dieser Forschungen wenig erhalten bleiben. Dabei folgten die Provinzstädte zumindest im Zeitpunkt dem Signal aus der Hauptstadt, viele Details des Umsturzes ähneln auch denen in Petrograd, gleichzeitig gab es oft markante Unterschiede. Das soll am Beispiel von Woronesch verdeutlicht werden. Auch diese Stadt bietet bei näherer Betrachtung ein Bild, das sich kaum mit den bisherigen sowjetischen Darstellungen deckt. Die damalige Gouvernementhauptstadt liegt 500 km südlich von Moskau, hatte 1917 100 000 Einwohner, bildet noch heute das Zentrum des fruchtbaren Schwarzerdegebiets und verfügte zur Zeit der Revolution über eine wichtige Garnison im Hinterland des immer noch im Krieg befindlichen russischen Reiches. Umgeben von einem Gebiet, das vollständig landwirtschaftlich geprägt war, verfügte Woronesch nur über eine geringfügige Industrie, die zudem in der Region keine Wurzeln hatte, weil sie erst in den Kriegsjahren entstanden war und ausschließlich von Rüstungsaufträgen des Staates lebte.
Als die Bolschewiki in Petrograd am 24. Oktober 1917 ihren Angriff auf die politischen Verhältnisse Russlands mit der Provisorischen Regierung begannen, wussten ihre Genossen in Woronesch nichts davon. Die Hauptstadt lag eine Tagesreise mit dem Zug entfernt, die Telegrafenstationen des Landes befanden sich in den Händen von Beamten, die die Wirksamkeit der Bolschewiki zu behindern suchten und deshalb auch deren Telegramme nicht weiterleiteten. Die Unruhen in der Hauptstadt blieben indes auch in der Provinz nicht lange verborgen, wenn auch in Woronesch tagelang nichts Genaueres zu erfahren war. Die Sozialrevolutionäre, die Partei mit der breitesten Massenbasis und den vielfältigsten Kontakten, waren am besten informiert. Sie forderten am 27. Oktober in einer Sowjetsitzung die Bolschewiki auf, zu den Ereignissen Stellung zu nehmen und sich zu äußern, ob sie Ähnliches auch hier planten. Die Gefragten verweigerten die Antwort mit dem Hinweis, nicht über eigene Informationen zu verfügen, erklärten aber, dass sie selbst keinen Aufstand planten, sie seien keine Aufrührer. Vorerst blieb es ruhig, Aufständische und Verteidiger sammelten ihre Kräfte. Dabei schienen die Gegner der Bolschewiki in der günstigeren Ausgangsposition. Sie vereinigten alle gesellschaftlichen Organisationen und Gruppen der Stadt. Im Stadtsowjet besaßen die gemäßigten Sozialisten (Sozialrevolutionäre und Menschewiki) die Mehrheit - ein großer Unterschied zu Petrograd und auch Moskau, wo die Bolschewiki seit dem Spätsommer dominierten. Stadtverwaltung und Stadtparlament, die Duma, traten ebenso geschlossen gegen die Bol-schewiki auf wie die Kommandeure der Garnison. Schon am 27.10. versammelten sich die Offiziere der Garnison in der Stadt und luden dazu alle gesellschaftlichen Kräfte ein. Die Sozialisten, auch die gemäßigten, vermuteten zuerst eine reaktionäre Maßnahme dahinter. Doch die Versammlung verabschiedete eine liberale Resolution im Geiste des demokratischen Aufbruchs der Februarrevolution. Damit war der Weg frei für eine große Koalition zur Verteidigung der bisherigen Ordnung. Der Sowjet, die Vertretung der Arbeiter, Bauern und Soldaten, nicht aber der Offiziere, beschloss auf seiner Sitzung am Abend desselben Tages die Bildung eines "Komitees der Sicherheit", an dem die gesamte Gesellschaft teilhaben sollte: der Kommissar der Provisorischen Regierung als Vertreter der Zentralmacht, die Stadtduma, der Sowjet, die Eisenbahnergewerkschaft und das Soldatenkomitee der verschiedenen Regimenter. Selbst die Bolschewiki wurden zur Teilnahme aufgefordert, ein sicher taktischer Schachzug. Sie lehnten allerdings genauso ab wie die linken Sozialrevolutionäre, ihr Juniorpartner. Politisch waren die Bolschewiki damit isoliert. Ihrer forma-len politischen Schwäche stand aber ihre militärische Stärke gegenüber. Sie hatten Einfluss auf ein Regiment, dass mit seinen gut 2000 Soldaten und 40 Maschinengewehren eine kon-kurrenzlose militärische Macht in der Stadt darstellte. Die anderen Teile der Garnison signalisierten "Neutralität", blieben also einfach passiv. Unabhängig von der Armee existierte als weitere bewaffnete Kraft die städtische Arbeitermiliz, eine Einheit von etwa 600 Mann. Diese bestand hauptsächlich aus Arbeitern der Eisenbahnwerkstätten, die als Fabrikpolizei im Mai 1917 gegründet worden war, schon bald aber Milizaufgaben in der Stadt übernahm. Die Kommandogewalt, die am 27. Oktober noch bei den gemäßigten Sozialrevolutionären lag, war nicht sichergestellt, da die Arbeiter dem Aufstand nicht abgeneigt waren. Dieser Umstand ist nicht nur mit der schwierigen ökonomischen Situation der Arbeiter zu erklären, sondern auch mit der Konzentration von besonders gewaltbereiten und abenteuerlustigen Männern in der Miliz. Die ambivalente Situation der politisch schwachen und militärisch starken Bolschewiki spiegelte sich auch in ihren unterschiedlichen Plänen wider. Bolschewiki und linke Sozialrevolutionäre hatten am 27. Oktober ein Handlungskomitee aus zehn Leuten (aus jeder Partei fünf) gegründet. [...]
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Letzte Änderung: 05.09.2003  | Ansprechpartner/in: Inhalt & Technik