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Kristina Stöckl
DEFIZITÄRES RUSSLAND? Die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung Russlands im Vergleich zu Westeuropa im Licht der Kulturmodelle von Jurij M. Lotman und Niklas Luhmann


Stellt man sich die Frage nach der Möglichkeit und nach dem Nutzen des Vorhabens, Kulturen miteinander zu vergleichen, so muss vorab geklärt werden, wie es ermöglicht werden kann, eine Kultur als Ganzes in den Blick zu bekommen, und warum es für notwendig angesehen werden kann, dass ein solcher Versuch unternommen wird. Am Beispiel von Russland und Westeuropa soll im Folgenden demonstriert werden, wie eine typologisierte Betrachtung von Kulturen für den Kulturvergleich fruchtbar gemacht werden kann. Gegenstand der Untersuchung sind das Typologisierungsangebot des sowjetischen Semiotikers Jurij Lotman, der zwischen binären und ternären Kultursystemen unterscheidet, und eine systemtheoretische Betrachtung nach Niklas Luhmann, der das System der Gesellschaft auf die funktionale Ausdifferenzierung seiner Subsysteme hin untersucht. Gegen beide Modelle wird der Vorwurf erhoben, dass sie ein defizitäres Bild der russischen Kultur entwerfen. In einem ersten Schritt wird der Berechtigung solcher Vorwürfe nachgegangen werden. Anschließend wird in einem zweiten Schritt auf den methodischen Denk-Fehler hinter einem solchen Schluss hingewiesen, um in einem dritten Schritt die Vorteile aufzuzeigen, die ein modellhaftes Vorgehen für den Kulturvergleich in sich birgt.
Jurij Lotman und Boris Uspenskij haben in ihrem 1977 erschienenen Aufsatz Die Rolle dualistischer Modelle in der Dynamik der russischen Kultur (bis zum Ende des 18. Jahrhunderts) einen typologischen Vergleich zwischen westeuropäischer und russischer Kultur vorgenommen. Darin attestieren die beiden Autoren der russischen Kultur eine binäre, der westeuropäischen Kultur hingegen eine ternäre Struktur. Das Bild des Fegefeuers, das Lotman und Uspenskij wählen, um den Gegensatz von zwei- und dreigliederiger Strukturiertheit anschaulich darzustellen, ist hinlänglich bekannt und vielfach kritisiert worden. Lotman und Uspenskij gehen davon aus, dass das russische Mittelalter keine Vorstellung vom Fegefeuer und damit keinen neutralen Bereich zwischen "Gut" und "Böse" entwickelt habe, der als Reservoir für Kontinuität dienen könne. - Bei näherer Betrachtung der russischen Kultur gab es die Vorstellung vom Fegefeuer jedoch sehr wohl, sie wurde bloß nie zur kirchlich anerkannten Lehrmeinung. Die kulturellen Grundwerte im System des russischen Mittelalters sind nach der These von Lotman und Uspenskij in einem zweipoligen Wertefeld angesiedelt. Die jenseitige Welt sei aufgeteilt in Paradies und Hölle, das menschliche Verhalten könne nur entweder heilig oder sündig sein. Die jenseitige Welt des westlichen Christentums hingegen sei in drei Bereiche aufgeteilt: Paradies, Hölle und Fegefeuer - und dementsprechend ließe das irdische Leben drei Verhaltensweisen zu: ein uneingeschränkt heiliges, ein uneingeschränkt sündiges und ein neutrales Verhalten, das nach einer reinigenden Prüfung die Rettung im Jenseits möglich macht.
Die zweipolige Verfasstheit der russischen Kultur hat nach Lotman und Uspenskij Auswirkungen auf ihre Entwicklung: Die beiden Kulturwissenschaftler beobachten die russische Geschichte und stoßen dabei auf rekurrente Merkmale, die sie interpretieren: Ihrer Ansicht nach wiederholt sich eine wiederkehrende radikale Umkehrung der Werte, die alle Bereiche des gesellschaftlichen und privaten Lebens erfasst, und die die Gesellschaft zu spalten vermag. Solche Wiederholungen werden z. B. bei der Christianisierung der Rus' gesehen, sowie in der Zeit der Wirren, im Schisma und bei den Reformen Peters des Großen. Das Herangehen an Kultur erfolgt in diesem kultursemiotischen Zugang analog zum Herangehen an Texte. Die isolierten Merkmale werden als Modell angeordnet, das für den Untersuchungsgegenstand steht und anhand dessen sich eine Binärstruktur feststellen lässt. Fasst man zusammen, welches Russlandbild im Licht des Lotmanschen Kulturmodells entsteht, so erscheint Russlands Entwicklung gehemmt und zwar durch die der Kultur inhärente binäre Struktur, die eine kontinuierliche Entwicklung unmöglich macht. Jede Veränderung geht unter Mühen, mit Vernichtung, Umsturz und Chaos vor sich, und die neue Ordnung reproduziert die alte als negativ. Eine Wende zum Positiven gilt nur dann als möglich, wenn sich Russland dem westlichen (Ternär)System anpasst. Wenden wir uns nun, gleichsam auf der Suche nach einer Alternative zum Lotmanschen Modell, Luhmanns Systemtheorie zu. Eine aus Luhmanns Verständnis wesentliche Unterscheidung ist die zwischen stratifizierter und funktional differenzierter Gesellschaft. Stratifikation gliedert die Gesellschaft in Schichten, in ungleiche Teile, die durch eine Rangordnung aufeinander bezogen sind. In der Geschichte Westeuropas stellt die spätmittelalterliche Feudalgesellschaft ein Beispiel für eine stratifizierte Gesellschaft dar. Diese entwickelt sich zwischen Neuzeit und 18. Jahrhundert zu einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft, deren Kennzeichen die funktionale Gleichheit un-gleicher Funktionssysteme, wie z. B. Recht, Wirtschaft, Politik, Kunst, ist. Das Gesamtsystem einer ausdifferenzierten Gesellschaft gibt keine Ordnung der Beziehung zwischen den Funktionssystemen vor, wie das bei einer Rangordnung in der stratifizierten Gesellschaft der Fall wäre. Die Identität eines Teilsytems wird auch nicht länger von seiner Rangdifferenz bestimmt, sondern vielmehr vom Funktionssystem selbst. Jedes Funktionssystem ist für eine je besondere Funktion ausdifferenziert, so z. B. das rechtliche System für die Unterscheidung von Recht / Unrecht im Konfliktfall, das politische System für die Ermöglichung kollektiv bindender Entscheidungen. Kann sie einen differenzierteren Blick auf das Verhältnis von russischer und westeuropäischer Kultur herausarbeiten? [...]
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Letzte Änderung: 05.09.2003  | Ansprechpartner/in: Inhalt & Technik