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5     Was ist anders als in den meisten Lehrbüchern?

5.1       Morphologie des Kormus

5.1.1       Verschiedene Definitionen des Blattes

5.1.2       Blätter, Emergenzen, Haare; Gemeinsamkeiten und Unterschiede

5.1.3       Anmerkungen zur Sproßachse

5.1.3.1       Abgrenzung von Blatt und Sproßachse

5.1.3.2       Verzweigung der Sproßachse

5.1.4       Anmerkungen zur Wurzel

5.1.4.1       Endogene Entstehung der Primärwurzel

5.1.4.2       Mechanische Funktion der Wurzelhaare

5.1.5        Anmerkungen zur Infloreszenzmorphologie

5.2       Anmerkungen zur Evolution des Generationswechsels

5.3       Anmerkungen zur Evolution der Angiospermenblüte

5.3.1       Unterschiedliche Auffassungen zur Blüte der ursprünglichen Angiospermen



5 Was ist anders als in den meisten Lehrbüchern?

5.1 Morphologie des Kormus

 

5.1.1 Verschiedene Definitionen des Blattes

 

Es gib eine ganze Anzahl verschiedener Versuche, eine Definition des Blattes zu geben. Sie sind   meistens recht lang und treffen dennoch nur meistens, in vielen Fällen aber dann doch nicht zu. Das wohl entscheidende Problem ist, daß es sich dabei meist nicht um eine Definition des Begriffes handelt, sondern um die Beschreibung verschiedener Blätter, also um Beispiele statt um Definitionen. Zu einer klaren Definition gehört, daß der Begriff innerhalb der Definition selbst nicht vorkommt, und daß ein Geltungsbereich angegeben wird, in dem die Definition ausnahmslos stimmt.

 

Für die Definition des Blattes ist charakteristisch, daß sie ohne die gleichzeitige Definition der Sproßachse nicht möglich ist. Der hier gemachte Versuch einer morphogenetischen Definition macht manche Bildungen zu Blättern, die üblicherweise nicht als solche betrachtet werden. So werden z.B. die in akropetaler Folge am Scheitel ausgegliederten Spreuschuppen mancher Farne nach dieser Definition zu Blättern. Das hat einerseits zur Folge, daß sich plötzlich auch die Farne streng an die Blattstellungsregeln halten, andererseits sind die völlig gleich aussehenden sekundär eingeschobenen Spreuschuppen keine Blätter. Das ist für die deskriptive Morphologie sicher unschön, für das Verständnis der morphogenetischen Prozesse aber sicher von Vorteil. Weiterhin sind die Staubgefäße nach dieser Definition manchmal Blättern homolog und manchmal nicht. Es wird dabei verständlich, warum "die Natur" der Staubblätter auch heute noch kontrovers diskutiert werden kann, und welche phylogenetischen Betrachtungsweisen mit den verschiedenen Konzepten in Zusammenhang stehen (siehe Seite 114).

 

Im viel diskutierten Problemfall Galium liefert die Definition dagegen ein klares und brauchbares   Ergebnis. Von den "Blattwirteln" der Galiumarten tragen nur maximal zwei einen Achselsproß.  Betrachtet man nur die Achselsprosse tragenden Blätter, so erhält man zweizählige Wirtel, die der Äquidistanz und Alternanz folgen. Die übrigen "Blätter" sind aber morphologisch und anatomisch gleichartig gestaltet. Sie wurden vielfach als Stipeln interpretiert, was aber immer dann auf Schwierigkeiten stößt, wenn mehr als sechs solcher Organe auf einem Wirtel stehen. Die "Blätter" solcher Wirtel entstehen jedoch nicht gleichzeitig, sondern nacheinander. Nach der   hier vorgeschlagenen Definition des Blattes können nur die zuerst gebildeten Primordien als Blätter angesprochen werden, diese sind es auch, die Achselsproße tragen können. Die nachträglich eingeschobenen "Blätter" sind nach der hier vorgestellten Definition nicht eigenständige Blätter, sondern Teile der zuerst angelegten Blätter. Das Galium-Blatt wird also dort, wo scheinbar vielgliedrige Quirle vorliegen als sitzendes, gefiedertes oder gefingertes Blatt aufgefaßt. Rutishauser (1984) spricht hier von sukzedaner Wirtelbildung und will alle Teile eines Wirtels als gleichwertige Organe und somit als Blätter aufgefaßt wissen. Bei einseitig geförderten   Achsen oder Seitenachsen (z.B. bei zygomorphen Blüten) ist eine solche sukzedane Wirtelbildung die Konsequenz der einseitigen Förderung und ohne weiteres einsichtig. Bei Galium liegt aber ein radiärer Sproß vor und die Voraussetzung für eine einseitige Förderung ist somit nicht gegeben. Auf das Beispiel Galium kann die hier vorgestellte starre Blattdefinition problemlos (d.h. ohne daß dies zu offensichtlichen Widerspüchen und Inkonsistenzen führt) angewendet werden. Dennoch ist das Beispiel ein Hinweis, daß es hinsichtlich der Morphogenese der einzelnen Bildungen alle Übergänge zwischen Blättern, Teilblättern, Emergenzen und Haaren gibt. Die einzelnen Kategorien sind nur dann sinnvoll zu unterscheiden, wenn man außer ihrer Morphologie und Morphogenie auch ihre Stellung im Gesamtgefüge berücksichtigt.

 

Nach der hier vorgeschlagenen Definition gibt es auch keinen Grund mehr, die Blättchen der Moose als Phylloide zu bezeichnen und nicht mit den Blättern von Farnen und Samenpflanzen zu homologisieren. Der einzige Grund hierfür war, daß die Moosblättchen nicht am Sporophyten, sondern am Gametophyten gebildet werden. Für die morphogenetischen Prozesse scheint dies aber nicht besonders wichtig zu sein. Als Hinweis in diese Richtung können auch Fehlbildungen betrachtet werden, die bei Farnen nicht so selten sind. So können z.B. an Farnsporophyten anstelle von Sporangien diploide Prothallien gebildet werden. Man kann solche diploide Prothallien auch experimentell erzeugen, da durch Regeneration aus isolierten Zellen oder kleinen Gewebefragmenten häufig nicht typische Sporophyten, sondern Prothallien entstehen. Diese diploiden Prothallien können unter Umständen sogar normal Antheridien und Archegonien bilden. Umgekehrt kann es vorkommen, daß Prothallien ohne Befruchtung zu sporophytischer Organisation übergehen. Die Fähigkeit zu sporophytischer oder gametophytischer Organisation ist damit nicht zwingend mit der Kernphase verbunden, sondern nur in der Regel mit ihr korreliert.

 

Es ist sicher unsinnig, völlig gleichgestaltete Organe einmal als Blatt und einmal als Phylloid zu bezeichnen, je nachdem ob der Organismus, der es bildet haploid oder diploid ist. Aus diesem Grund sollte man die Definition des Blattes nicht an die Position im Generationswechsel binden und der Begriff "Phylloid" für das Moosblättchen erübrigt sich hiermit. Glücklicherweise haben Moose nie eine Wurzel und sind daher auch dann keine Kormophyten, wenn man die Begriffe Phylloid und Cauloid durch Blatt und Sproß ersetzt. Im phylogenetischen Kontext wird die Angelegenheit allerdings etwas schwieriger. Nach heutiger Auffassung waren die Psilophytopsida (mit Rhynia als bekanntestem Vertreter) primär blattlose Farnpflanzen. Die Frage ist nun, ob sich die Moose erst nach der Evolution des Blattes vom Ast der Farnpflanzen abgespalten haben, oder ob sie sich vorher von der Ausgangsgruppe der Farnpflanzen abgespalten und das Blatt unabhängig von den Farnen und vielleicht sogar auf anderem Weg "erfunden" haben. Hier wird zunächst einmal unterstellt, daß das Blatt nur einmal erfunden wurde, die fossilen Nachweise von Moosen sind für eine Entscheidung dieser Frage allerdings bisher zu dürftig.

5.1.2 Blätter, Emergenzen, Haare; Gemeinsamkeiten und Unterschiede

 

Blätter, Emergenzen und Haare sind Anhangsorgane der Sproßachse und werden üblicherweise nach der Art ihrer Entstehung unterschieden. Emergenzen entstehen wie Blätter mit einer ersten Zellteilung in einer subepidermalen Zellschicht und sind aus Gewebe epidermaler und subepidermaler Herkunft aufgebaut. Sie genügen aber in ihrer Stellung nicht den Blattstellungsregeln und werden am Scheitel später angelegt als die Blätter. Emergenzen können sowohl zwischen Blätter eingeschoben werden, als auch auf Blättern gebildet werden. Hinsichtlich ihrer Stellung und Anordnung stimmen Haare mit Emergenzen überein, werden jedoch ausschließlich aus der Epidermis gebildet.

 

Diese in den meisten Lehrbüchern zu findenden Definitionen sind jedoch nur für Samenpflanzen   zutreffend. Bei Farnen wachsen die Blätter mit Scheitelzellen, die aus einer Epidermiszelle hervorgehen. Folglich sind bei Farnen sowohl Blätter als auch Emergenzen (Spreuschuppen) und Haare rein epidermaler Herkunft und eine Unterscheidung auf dieser Basis ist somit nicht möglich. Untersucht man die Anlegungsfolge und Stellung von Blättern und Spreuschuppen, so fällt als erstes auf, daß bei vielen Farnen mit horizontal wachsenden Rhizomen die Blätter nicht nach den Blattstellungsregeln angeordnet sind. Ontogenetische Studien zeigen, daß die Blätter nicht durch sekundäre Wachstumsprozesse in eine abweichende Stellung verschoben werden, sondern daß sie in der abweichenden Position gebildet werden. In Abweichung zur Situation bei den Samenpflanzen werden bei Farnen Emergenzen (Spreuschuppen) nicht ausschließlich nachträglich zwischen vorhandene Blattanlagen eingefügt, sondern können direkt am Scheitel nach den Blattstellungsregeln in spiraliger Folge entstehen. Dies ist später an dem deutlichen Parastichenmuster der Spreuschuppen z.B. bei Polypodium aureum noch erkennbar. Ontogenetische Studien belegen, daß Spreuschuppen und Blattanlagen am Farnscheitel eine einzige, den Blattstellungsregeln folgende ontogentische Spirale bilden. Die auf dieser ontogentischen Spirale liegenden Spreuschuppen genügen damit der hier vertretenen Definition von Blättern. Es gibt sogar Übergänge zwischen normalen Blättern und Spreuschuppen. Während die Spreuschuppen zunächst mit einer einschneidigen Scheitelzelle wachsen und einen einzellreihigen Faden bilden, beginnt die Entwicklung des Blattes mit der Bildung einer zweischneidigen Scheitelzelle. Gelegentlich finden sich jedoch intermediäre Bildungen, die so klein wie Spreuschuppen bleiben, aber dennoch mit einer zweischneidigen Scheitelzelle beginnen. Es besteht offenbar eine Korrelation zwischen dem Erstarkungsgrad des Scheitels und der Art der gebildeten Anhangsorgane. Bei erstarktem Scheitel werden Spreuschuppen gebildet, bei kleinem Scheitel Blätter. Dies stimmt mit der Beobachtung überein, daß Farnembryonen mit der Bildung von blattähnlichen Gebilden beginnen und erst ab einer gewissen Erstarkung die ersten Spreuschuppen auftreten. Allerdings werden im Verlauf des weiteren interkalarenWachstums der Sproßachse bei den meisten Farnen sekundär weitere Spreuschuppen zwischen die bereits bestehenden eingefügt, die damit dann nicht mehr der Blattdefinition genügen. Damit ist gezeigt, daß sich auch die Farne wohl ausnahmslos an die Blattstellungsregeln halten. Das ist für die theoretische Morphologie sehr befriedingend, für die Praxis aber eher unerfreulich, da einerseits nicht alle Blätter so bezeichnet werden und andererseits die Spreuschuppen teilweise Blättern entsprechen und teilweise nicht. Hier wird bei den Farnen von "Wedeln" und "Spreuschuppen" geredet und diese Begriffe im üblichen Sinn angewendet. Immer wenn von Blättern die Rede ist, so ist der Begriff im strengen Sinn der Definition Seite 17 verwendet.

5.1.3 Anmerkungen zur Sproßachse

 

5.1.3.1 Abgrenzung von Blatt und Sproßachse

 

Die Abgrenzung von Sproßachse und Blatt spielt für viele morphologische Probleme eine entscheidende Rolle. Während morphologisch eine solche Abgrenzung in meist befriedigender Weise möglich ist, kann auf anatomischer Ebene keine genaue Abgrenzung gegeben werden. Es ist niemals entscheidbar, bei welcher Zelle exakt eine solche Grenze verläuft. "Herablaufende" Blattbasen oder Blattränder sind ein anschauliches Beispiel für dieses Dilemma.

 

Es ist daher anzustreben, daß Bildungen, die immer in eindeutiger Lagebezeihung zum Blatt stehen, auch diesem zugerechnet werden. So sollten z.B. "Achsensporne" als mit der Achse kongenital verwachsenen Blattsporne betrachtet werden, da sie immer in der Medianebene zu einem Blatt liegen. Verfährt man nicht so, dann gibt es Probleme, die ihre Ursache weniger in einem biologischen Problem als in der Unzweckmäßigkeit der Terminologie haben. Zu diesem Problemkreis gehört vielleicht auch der sog. Achsenbecher bei mittelständigen Fruchtknoten. Bei der Kirsche (Prunus), die hier i.A. als Paradebeispiel angeführt wird, sind die Blütenblätter am Rand eines Bechers inseriert, der üblicherweise als Achsenbecher bezeichnet wird. Zuerst fallen die weiß gefärbten Petalen ab. Später wird der sogenannte Achsenbecher aber von der wachsenden Frucht gesprengt und fällt zusammen mit den ansitzenden Kelchblättern ebenfalls ab. Daß eine solche Kelch-Kron-Röhre als Achsenbecher bezeichnet werden soll, während man Kron-Staubgefäß-Röhren niemals als Achsengebilde bezeichnet, ist unlogisch. Der Umstand, daß Kron-Staubgefäß-Röhren meist blumenblattartig bunt gefärbt sind während in den bekannten Beispielen die Kelch-Kron-Röhre grün ist, genügt nicht um darauf so grundlegende morphologische Unterschiede aufzubauen. Die angelsächsische Literatur kennt den mittelständigen Fruchtknoten überhaupt nicht, und auch die deutsche Morphologie ist nicht in der Lage, an der reifen Frucht zu unterscheiden, ob der Fruchtknoten ober- oder mittelständig ist. Man sollte daher auf den Terminus "mittelständig" verzichten, zumal er fälschlicherweise nicht selten mit "halbunterständig" verwechselt wird.

5.1.3.2 Verzweigung der Sproßachse

 

Die Samenpflanzen sollen sich nach allgemeiner Vorstellung ausschließlich aus der Achsel von Tragblättern verzweigen. Ausnahmen hiervon sind nur Beisprosse im engeren Sinn, Hypocotylsprosse und wurzelbürtige Sprosse. Vielleicht kann man wurzelbürtige Sprosse und Hypocotylsprosse unter diesem Gesichtspunkt sogar zusammenfassen, da beide im Pericycel, also endogen in derselben Gewebeschicht angelegt werden. Beisprosse können als das Ergebnis der Fraktionierung eines zu groß gewordenen, asymetrischen axillären Scheitels aufgefaßt werden.  

Der große Unterschied zu den Pteridophyten besteht darin, daß dort die Verzweigung angeblich immer ganz anders erfolgt. Bei den meisten Farnen erfolgt sie irgendwo, ohne feste Lagebeziehung zu den Farnwedeln, und bei den Lycopodiaten als dichotome Verzweigung des Sproßscheitels, wobei sich die Scheitelzelle antiklin in zwei gleich große oder verschieden große (bei Anisotomie) Tochterzellen teilt. Es stellt sich damit die Frage, ob die Samenpflanzen eine ganz neue Verzweigungsweise erfunden haben, oder ob es sich nicht doch um eine Fortentwicklung von bekanntem handelt.

 

Was die echten Farne anbelangt, so sieht die Situation ganz anders aus, wenn man berücksichtigt, daß auch die Spreuschuppen von ihrer Anlegungsweise und Stellung her zum Teil Blättern entsprechen. Untersuchungen, ob die Verzweigung hier immer aus der Achsel eines Wedels oder einer Spreuschuppe mit Blattnatur erfolgt, fehlen bisher. Es ist aber möglich, daß Farne sich entgegen dem äußeren Anschein hier genauso wie höhere Pflanzen verhalten.

 

Der Gegensatz zwischen der Dichotomie der Lycopodiaten und der axillären Verzweigung der Samenpflanzen bleibt dagegen zunächst bestehen. Betrachtet man aber Seitensprosse, die in der Achsel des obersten Laubblattes direkt neben dem Scheitel entstehen, so tritt eine neue Situation auf. Solche Verhältnisse trifft man sowohl bei der Blütenbildung (z.B. Fritillaria) als auch bei der Infloreszenzbildung (z.B. Convallaria) an. Für den klassischen Morphologen stellt sich in solchen Fällen die schwer zu beantwortende Frage, welches denn nun der Achselsproß ist und welcher den Hauptsproß fortsetzt. In manchen Fällen läßt hier die Blattstellung eine eindeutige Entscheidung zu. In manchen Fällen erlaubt die Blattstellung jedoch, jeden der beiden Sprosse als Haupt- oder als Achselsproß zu betrachten. Diese Fälle können problemlos als dichotome Verzweigungen aufgefaßt werden, da beide Sprosse auch gleichzeitig an der Sproßspitze entstehen. Die klassische Morphologie hat sich offenbar darauf festgelegt, diese Fälle als Grenzfälle der axillären Verzweigung aufzufassen. Es gibt jedoch keinen stichhaltigen Grund, der gegen die gegenteilige Auffassung spricht, die axilläre Verzweigung als Extremfall der anisotomen Verzweigung zu betrachten. Gegenargument ist in der Regel, daß Dichotomie und Anisotomie die Teilung von Scheitelzellen und nicht von Scheitelmeristemen beinhalten. Das ist jedoch lediglich eine Frage der Größenrelationen. Sind die Zellen im Vergleich zur Scheitelregion sehr groß, so tritt u.U. nur eine einzige Initiale auf. Sind sie wesentlich kleiner, so tritt an die Stelle der Scheitelzelle ein Scheitelmeristem. Dem Lebermoos Marchantia polymorpha spricht niemand die dichotome Verzweigungsweise ab, obwohl hier keine Scheitelzelle, sondern ein Scheitelmeristem vorliegt.

 

Es ist also durchaus vorstellbar, daß es bei allen in Sproßachse und Blätter gegliederten Pflanzen einheitliche und durchgehende Verzweigungsprinzipien gibt. Nachgewiesen sind solche Prinzipien allerdings bisher nicht, da bei den Lycopodien Stellungsuntersuchungen der Blätter im Bereich der Verzweigungen bisher fehlen und bei den Farnen die Spreuschuppen nicht im erforderlichen Ausmaß in die Betrachtungen einbezogen worden sind.

5.1.4       Anmerkungen zur Wurzel

 

5.1.4.1 Endogene Entstehung der Primärwurzel

 

In Anlehnung an Schneckenburger (1989) wird hier die Primärwurzel als endogen entstanden betrachtet. Diese Auffassung ist von Yamashita () heftig angegriffen worden. Yamashita hat in mehreren Arbeiten (Yamashita   ) gezeigt, daß die erste Wurzel mancher Monocotyledonen (z.B. der Gräser; Yamashita    ) nicht der Keimwurzel, sondern der ersten Seitenwurzel entspricht. Die Coleorhiza der Gräser entspricht z.B. der Anlage der Primärwurzel anderer Monocotyledonen und die erste Wurzel des Gramineenkeimlings ist bereits eine sproßbürtige Seitenwurzel. Entscheidend für diesen Beweis war das Auftreten einer sogenannten Wurzeltasche, eines Hohlraumes vor der von innen hervorbrechenden Seitenwurzel. Eine solche Wurzeltasche ist aus mechanischen Gründen immer zu erwarten, wenn bereits differenziertes Gewebe durchdrungen werden muß, ganz ähnlich wie sich das Holz nicht erst an der Schneide der Axt, sondern bereits ein ganzes Stück davor teilt, wenn die Axt erst einmal in das Holz eingedrungen ist. Im Embryo liegt nun aber in dem Bereich, in dem sich die erste Wurzel bildet, kein ausdifferenziertes Gewebe vor. Das Fehlen der Wurzeltasche kann mithin nicht als Argument gegen eine endogene Entstehung der Primärwurzel verwendet werden.

 

Akzeptiert man die Interpretation Schneckenburgers, dann hat man plötzlich eine einheitliche Entwicklungslinie von den Farnen bis zu den Angiospermen. Die Tatsache, daß durch die endogene Entstehung immer nicht cutinisierte Oberflächen aus Hemizellulosen exponiert werden, weil die Gewebe an den verschleimenden Mittellamellen auseinanderweichen, liefert auch eine hervorragende Begründung für die Notwendigkeit und den Wert dieser Erfindung. Ein weiteres Argument in dieser Richtung ist, daß manche Lycopodien zunächst gar keine Wurzel ausbilden, sondern erst, wenn der Embryo bereits vom Prothallium unabhängig geworden ist. Bei Salvinia wird eine Wurzel zu keinem Zeitpunkt angelegt, und die Entwicklung der Wurzel ist mithin nicht immer etwas, was in den ersten Entwicklungsschritten des Embryos erfolgen müßte. Der Embryo ist zwar bipolar gebaut, einfach weil es ähnlich wie bei Magneten einen einzelnen Pol nicht geben kann. Der Gegenpol, die am weitesten vom Sproßpol weg liegende Stelle ist aber nicht notwendigerweise der Wurzelpol.

Die Arbeiten von Yamashita über exogene und endogene erste Wurzeln bei manchen Monocotyledonen (z.B. Gräser, siehe oben) werden durch das Konzept Schneckenburgers weder widerlegt noch entwertet. Lediglich die terminologische Basis wird verschoben, die festgestellten Entsprechungen bleiben erhalten.

 

Die terminologische Basis wird aber auch noch an anderer Stelle etwas verschoben. Die Begriffe   allorhiz und homorhiz sind nicht mehr in ihrer ursprünglichen Bedeutung verwendbar, da mit der Annahme einer endogenen Entstehung der Primärwurzel der Samenpflanzen plötzlich alle Gefäßpflanzen homorhiz geworden sind. Man kann sich hier retten, indem man Pflanzen mit einer dominierenden Hauptwurzel als allorhiz und solche, die lauter sproßbürtige Wurzeln aufweisen, als homorhiz bezeichnet. Der Kunstgriff ist aber zweifelhaft und vielleicht überflüssig, da mit diesen Begriffen letztlich nur die unterschiedliche Morphologie des Wurzelsystems bei Vorhandensein und Fehlen von sekundärem Dickenwachstum der Wurzel beschrieben werden kann. Angesichts der vielen morphologisch und ökologisch interessanten Möglichkeiten zur Ausgestaltung des Wurzelsystems sind diese zwei Typen aber ohnehin nicht besonders wertvoll.

5.1.4.2 Mechanische Funktion der Wurzelhaare

 

Die mechanische Funktion der Wurzelhaare wird hier gegenüber der Resorptionsfunktion stark in den Vordergrund gestellt. Hierfür sind mehrere Gründe maßgeblich. Wäre die primäre Aufgabe der Wurzelhaare die Aufnahme von Wasser und Nährstoffen, dann wäre völlig unverständlich, warum sie auch bei Wurzeln ohne sekundäres Dickenwachstum und ohne seitliche Verzweigungen nur eine kurze Zone hinter der Wurzelspitze einnehmen und dahinter meist zusammen mit der gesamten Rhizodermis und nicht selten auch noch darunter liegenden Schichten bis zur Exodermis abstirbt. Wo die dargestellte mechanische Funktion der Wurzelhaare überflüssig ist, fehlen diese auch tatsächlich. So sind z.B. Luftwurzeln immer ohne Wurzelhaare, und erst wenn diese auf den Boden auftreffen werden Wurzelhaare ausgebildet. Das gleiche gilt für frei flottierende Wurzeln vieler Wasserpflanzen. Sumpfpflanzen und Wasserpflanzen bilden dagegen oft an allen in den Untergrund eindringenden Wurzeln Wurzelhaare aus, obwohl die Wasserversorgung kaum ungünstiger sein kann als bei frei flottierenden Wurzeln. Typische Landpflanzen bilden dagegen Wurzelhaare aus, und zwar meist auch, wenn sie in Nährlösung oder in feuchten Kammern ohne Substrat gezogen werden.

 

Am Keimling sind zunächst noch keine Wurzelhaare vorhanden. Die Haltefunktion wird in diesem Fall nicht selten von einem Kranz von Haaren aus der Epidermis des Hypocotyls übernommen. Diese Haare stehen direkt am Übergang von Rhizodermis zur Epidermis des Sprosses. Sie fehlen bei hypogäischer Keimung oder sehr schweren Samen bzw. Früchten (z.B. Kokosnuß).

 

Beim Verpflanzen können viele Pflanzen einen Großteil ihrer Feinwurzeln und damit auch ihrer Wurzelhaare verlieren. Die auftretenden Schäden müßten größer sein, wenn die Pflanzen nicht mit der gesamten Wurzel Wasser resorbieren könnten. Schließlich sind die Durchlaßzellen in der Endodermis auch hinter der Wurzelhaarzone zu finden und auch die Zellen der tertiären Endodermis weisen in den tangentialen Wänden große Tüpfel auf. Das ist eigentlich nur sinnvoll, wenn es in diesem Bereich noch Wasseraufnahme und Wassertransport in den Zentralzylinder hinein gibt.

 

Um letztlich entscheiden zu können, ob die Resorptionsfunktion oder die mechanische Funktion überwiegt, müßte untersucht werden, ob die Wurzelhaare einen nennenswerten Einfluß auf den Verlauf des Wassersättigungsgradienten im Bereich der Wurzelspitze haben. Vermutlich stehen die Wurzelhaare aber für eine optimale Wasseraufnahme viel zu dicht, und erst die Anlegung von Seitenwurzeln erfolgt optimiert für die Wasseraufnahme.

5.1.5 Anmerkungen zur Infloreszenzmorphologie

 

Gute Begriffssysteme weisen eine in sich widerspruchsfreie logische Struktur auf. Es ist daher hilfreich und erleichtert das Verständnis, diese Struktur zu analysieren. W. Troll hat seine beiden Typen, die monotele und polytele Infloreszenz ursprünglich als übergangsfreie Gegensätze aufgefaßt. Er gelangt typologisch vom monotelen zum polytelen blütenstand, indem er anstelle einer Blüte des monotelen Blütenstandes eine polytele Floreszenz (offene Traube oder offener Thyrsus) setzt ( Abb. 41 ).

 

Wie man inzwischen weiß (und wie Troll auch noch selbst festgestellt hat), hat es den Übergang von monotelen zu polytelen Blütenständen entegegen den ursprünglichen Vermutungen in der Evolution doch gegeben und zwar vermutlich sogar mehrfach. Dabei wurde der Verzweigungsgrad der Seitentriebe unterhalb der Endblüte reduziert (Blüten die durch nicht ausgefüllte Kreise dargestellt sind, sind im jeweils nächsten Schritt fortgelassen). Dadurch wird der Endabschnitt der Rispe (grauer Kasten) zunächst zum Botryoid. Dieser Vorgang wurde von Sell (????) als Racemisation beschrieben. In einem weiteren Schritt unterbleibt die Anlegung der Endblüte (Trunkation) und aus dem Botryoid wird damit eine Traube (Racemus).

 

Während die Terminologie Troll´s die Traube so beschreibt, als stünde sie anstelle einer einzigen Blüte, steht sie in der evolutiven Ableitung anstelle eines größeren Blütenstandsabschnittes. Daraus zu schließen, die Terminologie Troll´s sei falsch, ist aber unzulässig, da eine Terminologie nie richtig oder falsch sein kann. Die Terminologie Troll´s ist aber von ihrer Konzeption her ungünstig, wenn man sich mit dem Übergang zwischen monotelen und polytelen Blütenständen befaßt. Solange man Gruppen bearbeitet, in denen nur der polytele oder nur der monotele Typ auftritt, hat man dieses Problem nicht und bei den vielen Gruppen bei denen dieser Übergang nicht vorkommt, hat sich das Troll´sche Konzept daher hervorragend bewährt.

 

Statt sich damit abzufinden, daß die Terminologie Troll´s bei der Beschreibung des Überganges von monotel nach polytel gewisse Nachteile hat, wurde hier versucht, durch geringfügige Abwandlungen des Begriffssystems und schärfere Definitionen diesen Mangel zu beheben. Die Verschärfung der Definitionen wurde dadurch möglich, daß Begriffe jetzt nur noch den Zustand beschreiben und nicht mehr explizit oder implizit Aussagen über die morphologische oder phylogenetische Ableitung der so bezeichneten Strukturen haben. Damit werden gleichzeitg eine Reihe weniger gebrauchte und schwer verständliche Begriffe überflüssig. Das gilt z.B. für die Begriffe "Dyade" und "Triade", die jetzt als zwei- bzw. dreiblütige Cymen bezeichnet werden. Damit gibt es für morphologisch gleichartige Strukturen in monotelen und polytelen Blütenständen keine unterschiedlichen Termini mehr. Auch der Begriff Parakladium wird unterschiedslos in polytelen und monotelen Systemen verwendet. Seine Anwendung ist umso nützlicher, je umfangreicher die sich wiederholenden Einheiten (Parakladium = Wiederholungstrieb) sind. Solche Parakladien sind insbesondere in monotelen, thyrsich gebauten Synfloreszenzen häufig und können dort die Beschreibung der Blütenstände erheblich vereinfachen.

5.2 Anmerkungen zur Evolution des Generationswechsels

In Kapitel 3.2 wurde die Evolution von einfachen Moosen zu Blütenpflanzen als mehr oder weniger linearer Prozeß zunehmenden evolutiven Fortschrittes dargestellt. Das macht die Angelegenheit übersichtlicher und leichter verständlich. Eine solche Anagenese oder Orthogenese hat sich aber überall, wo sie unterstellt wurde, als falsch erwiesen. Sie hätte nämlich zwangsläufig zur Folge, daß rückständige Formen aussterben müssen, ähnlich wie die ersten Computer mit 8088 Prozessoren inzwischen ausgestorben sind. Da die angeblich primitiveren Pflanzen aber nicht ausgestorben sind, sind sie mit Sicherheit nur anders spezialisiert und allenfalls in den hier betrachteten Merkmalen primitiver, nicht aber insgesamt. Daher ist es mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht richtig, daß sich Farne aus moosartigen Vorfahren entwickelt hätten. Die heutigen Moose sind vermutlich vielmehr Reduktionsformen, bei denen ein ursprünglich stärker differenzierter Sporophyt zurückgebildet wurde. Darauf deuten unter anderem die starke anatomische Differenzierung des Moossporophyten hin, der bereits Wasser- und Assimilatleitbahnen aufweist. Dabei liegen erstaunlicherweise die Zellen der Assimilatleitung (Leptoiden, in Analogie zu Leptom = Phloem) außen und die Zellen der Wasserleitung (Hydroiden) innen, genau wie das bei allen höheren Pflanzen auch der Fall ist. Auch bei den Gametophyten tritt eine solche Zelldifferenzierung auf. Wo sie fehlt, wird das als sekundäre Reduktion betrachtet. Warum sollte auch eine innere Wasserleitung erhalten bleiben, wenn wegen der Befruchtung sowieso eine äußere entwickelt werden mußte. Man nimmt heute allgemein an, daß Moose von Vorfahren mit isomorphem Generationswechsel abstammen, solche Organismen haben wohl auch an der Basis der Farne gestanden. Moose repräsentieren damit eine völlig andere Anpassungsrichtung als Farne und nicht etwa einen mißglückten Versuch der Evolution, Farne zu bilden.

 

Auch die Paläontologie liefert recht deutliche Hinweise in dieser Richtung. So treten die ersten fossilen Nachweise von Moosen deutlich später auf als Nachweise von Farnen, Bärlappen und Schachtelhalmen.

 

Ähnliches gilt auch für die anderen Hauptgruppen. So entwickelt sich z.B. bei manchen Cycadeen das Makroprothallium erst nach der Bestäubung. Die Aufwendungen für das primäre Endosperm treten daher nur ein, wenn der Befruchtungserfolg bereits gesichert ist. Auf ganz anderem Weg haben diese Arten das gleiche erreicht wie die Angiospermen, bei denen die Bildung des sekundären Endosperms als Ergebnis der doppelten Befruchtung ebenfalls vom Befruchtungserfolg abhängt. Die Angiospermen treten allerdings in der Phylogenie mit Sicherheit später auf als die Gymnospermen und haben sie heute weitgehend verdrängt. Es gibt heute weniger verschiedene Arten Gymnospermen als verschiedene Arten innerhalb der Compositengattung Hieracium.

5.3 Anmerkungen zur Evolution der Angiospermenblüte

 

5.3.1 Unterschiedliche Auffassungen zur Blüte der ursprünglichen Angiospermen

 

Üblicherweise wird heute meist noch angenommen, daß die primitive Angiospermenblüte von Käfern bestäubt wurde und relativ groß und robust war. Der Zwang, die Samenanlagen einzuschließen, ergab sich nach dieser Auffassung daraus, daß sie vor den Käfern geschützt werden mußten, die mit ihren beißenden Mundwerkzeugen in den Blüten einige Verwüstung anrichten können. Für diese Ansicht sprach, daß viele der als primitiv betrachteten Magnolien-Verwandten solche käferbestäubte Blüten besitzen. Auch ist bekannt, daß vereinzelt Rüsselkäfer in den Zapfen von Cycadeen leben und vielleicht auch die Bestäubung herbeiführen. Käferbestäubung bei Cycadeen soll hier nicht in Abrede gestellt werden, hier wird aber unterstellt, daß sie sich spät entwickelt hat und nicht den Ausgangspunkt für die Entwicklung zu den Angiospermen bildet. Rüsselkäfer minieren in den unterschiedlichsten Materialien und die im Jugendstadium noch faserigen, wenig verholzten Zapfen vieler Cycadeen eignen sich besonders gut als Substrat für Rüsselkäfer.

 

Nach der hier vorgestellten Auffassung dient die Bildung geschlossener Karpelle nicht primär dem Schutz der Samenanlagen. Sie ist vielmehr notwendig, um die zu diesem Zeitpunkt bereits vorhandene Narbe so zu gestalten, daß der Pollenschlauch möglichst sicher und ökonomisch eine befruchtungsfähige Samenanlage erreichen kann. Die Narbe ist nach der hier vorgestellten Auffassung im Gegensatz zur landläufigen Vorstellung älter als die Angiospermie. Es ist daher auch nicht sicher zu entscheiden, ob die Karpelle zuerst geschlossen waren und dann die Zoophilie erreicht wurde (ob die ersten Angiospermen anemophil waren) oder ob es umgekehrt war. Übereinstimmung zur allgemeinen Lehrauffassung besteht dahingehend, daß alle heute lebenden Angiospermen entweder selbst zoophil sind, oder von zoophilen Vorfahren abstammen.   Hier wird des weiteren angenommen, daß die ersten Bestäuber Insekten mit saugend leckenden Mundwerkzeugen waren, die keine Schäden an Blüten anrichten konnten. Diese haben möglicherweise schon bei den Gymnospermen zuckerhaltige Bestäubungstropfen geleckt. Nach dem Wechsel zur Angiospermie haben diese Bestäuber dann Narbensekret geleckt, das wegen des Verdunstungsschutzes und der Keimungsstimmulierung ebenfalls zuckerhaltig sein mußte.

 

Das bedeutet, daß die ursprünglichsten Bestäuber vermutlich nicht Käfer, sondern Dipteren waren. Die Käferhypothese paßte gut zu der Vorstellung, daß die ursprünglichsten Angiospermen holzige Magnoliales waren. Die von den Blütenbiologen ebenfalls mit großem Interesse studierten Hymenopteren scheiden dagegen als primitive Bestäuber aus, da die bestäubenden, insbesondere die sozialen Hymenopteren phylogenetisch jünger sind als die Angiospermen und die primitiven Hymenopteren (Blattwespen) räuberisch lebten. In der Zwischenzeit weiß man, daß Käferblütigkeit ein sehr hoch evoluiertes, komplexes Syndrom darstellt. Die Dipteren als   unspezialisierte Gelegenheitsbestäuber eignen sich dagegen als Bestäuber der primitiven Angiospermenblüte hervorragend. Daß sie so wenig Beachtung finden, liegt vermutlich vor allem daran, daß es nichts vergleichbar Interessantes zu beobachten gibt wie bei Käfern und Hymenopteren, und daß Dipteren so unangenehm zu bestimmen sind.   Tatsache ist, daß die unspezifische Fliegenbestäubung keine oder nur geringfügige Anpassungen an die Bestäuber erfordert und daß es Dipteren zur fraglichen Zeit schon gab. Es bereitet daher keine Schwierigkeiten, Dipteren als primitive Bestäuber anzunehmen. Daß Dipteren üblicherweise als wenig blumenstet eingestuft werden müssen, ist beim Übergang von der Anemophilie zur Zoophilie noch nicht nachteilig. Effektive Windbestäubung verlangt relativ homogene Bestände einer Art und sichere Kreuzungsbarrieren zwischen sympatrisch lebenden Arten. Die primitiven Bestäuber zu Beginn der Angiospermen-Evolution hatten daher vermutlich nur in sehr begrenztem Ausmaß die Möglichkeit, "falsche" Blüten zu besuchen. Die Entwicklung von Bestäubungssyndromen, die eine starke Blumenstetigkeit erfordern, ist deswegen mit einiger Wahrscheinlichkeit erst später in der Evolution der Angiospermen entstanden. Erwiesen ist die Vermutung, daß Dipteren die ursprünglichsten Bestäuber seien, jedoch genausowenig wie die Käferhypothese.

Gegen die Käferhypothese spricht aber auch, daß holzige oder baumförmige Magnolien in jüngster Zeit wieder aus ihrer Rolle als primitivste Angiospermen durch das "Palaeoherb", d.h. durch die Annahme verdrängt worden sind, daß die ursprünglichsten Angiospermen wenig spezialisierte, ausdauernde Kräuter waren. Käferhypothese und Magnolialeshypothese haben sich daher möglicherweise in einem einfachen Zirkelschluß gegenseitig gestützt.

 

Die Vermutung, der Einschluß der Samenanlagen in einen geschlossenen Fruchtknoten diene als Fraßschutz, erscheint ebenfalls nicht ganz schlüssig. Zur Zeit der Bestäubung ist das Makrosporophyll noch sehr weich und es würde Insekten mit beißenden Mundwerkzeugen leicht fallen, die Karpelle gemeinsam mit den Samenanlagen aufzufressen. Da noch kein Endosperm gebildet ist, gibt es auch noch keinen Grund, die Samenanlage gegenüber Karpellgewebe als Futter zu bevorzugen. Später, wenn bereits Nährstoffdepots im Samen angelegt sind, ist der Same oder die Samenanlage jedoch auch bei den meisten Gymnospermen hervorragend geschützt. Die Samenschuppen schließen fest aneinander an und verholzen, so daß die Samen bis zu ihrer Freisetzung mindestens ebenso gut geschützt sind wie bei einer Angiosperme. Nur zum Zeitpunkt der Bestäubung besteht bei den Gymnospermen ein freier Zugang zu den Samenanlagen. Davor und danach gibt es diesen freien Zugang nicht, und selbst dort, wo er besteht, sind die Samenanlagen meist so in der Tiefe zwischen den Zapfenschuppen verborgen, daß Insekten kaum eine Chance haben, sie zu erreichen. Der Schutz der Samenanlage wird also bei den Gymnospermen in gleichwertiger Weise, aber auf ganz anderem Weg erreicht. Ein Nachteil des Gymnospermenzapfens ist lediglich, daß die Schutzfunktion nur erreicht wird, wenn sich alle Schuppen entwickeln, unabhängig davon ob die dazu gehörigen Samenanlagen befruchtet sind oder nicht. Bei Angiospermen mit freien Karpellen können dagegen Karpelle ohne befruchtete Samenanlagen abortieren, ohne daß die Funktionalität der Frucht beeinträchtigt wird.

 

Problematisch im Hinblick auf den hier vorgeschlagenen Evolutionsweg ist die Tatsache, daß viele fossile Angiospermen aus der Kreide einsamige Karpelle aufweisen. Entscheidende Vorteile ergeben sich aber vor allem bei mehrsamigen Karpellen. Die Gymnospermen mit Narben hatten aber andererseits die Zahl der Samenanlagen bereits auf zwei oder sogar auf eine einzige (Araukarien) reduziert. Vielleicht hat die Evolution der Mehrsamigkeit erst sekundär nach der Entwicklung des geschlossen Karpells wieder eingesetzt. Vielleicht sind einsamige Früchte (Nüsse?) aber auch nur günstiger für die Fossilisation. Bei einer Streufrucht ist es jedenfalls auch bei rezenten Arten weit schwieriger, Samenanlagen in situ im geschlossenen Karpell in der Streu zu finden als bei Nüssen.