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Ludger Jansen
Soziale Entitäten.

Logische, ontologische und ethische Aspekte
Forschungsprojekt



Wenn wir "wir" sagen

Das Personalpronomen der ersten Person Singular "ich" hat in der Philosophie der Neuzeit seit Descartes breite Aufmerksamkeit gefunden. Logisch gesehen ist es ein indexikalischer Ausdruck, der auf den Sprecher des Ausdrucks referiert. Ontologisch gesehen entzündet sich an ihm die Subjektphilosophie mit den Diskussionen über personale Identität.

Das Personalpronomen der ersten Person Plural "wir" ist hingegen noch wenig beachtet worden. Wie "ich" ist "wir" ein kontextsensitiver indexikalischer Ausdruck. Während "ich" aber stets dieselbe Referenz hat, wenn es von ein und demselben Sprecher verwendet wird, kann die Referenz des Pronomens "wir" bei verschiedenen Gelegenheiten seiner Verwendung unterschiedlich sein, selbst wenn es von ein und demselben Sprecher verwendet wir. In folgenden Sätze bedeutet "wir" jeweils etwas verschiedenes, auch wenn alle von ein und demselben Sprecher geäußert werden:

  1. "Wir können uns morgen ja wieder zum Mittagessen treffen",
  2. "Wir Deutschen sind fleißig",
  3. "Letzte Wochen haben wir gegen die Bayern gewonnen" (geäußert in der Südkurve).
Gemeinsam ist allen Beispielen, daß das Pronomen "wir" auf eine Gruppe verweist, der sich der Sprecher zuordnet, wobei die Zugehörigkeit zu der Gruppe aber unterschiedlich konstituiert sein kann, wie besonders das letzte Beispiel zeigt: Der Fan kann "Wir haben gewonnen" sagen, obwohl er nie mitgespielt hat.

Probleme der Ontologie sozialer Entitäten

Mit dem Pronomen "wir" wird also auf eine Gruppe verwiesen, auf eine soziale Entität. Wie wird eine soziale Entität individuiert? In Satz (1) verweist "wir" auf eine Gruppe von Personen, die sich zu einer bestimmten Zeit zum Essen getroffen haben; hier kann die Individuierung der Gruppe auf eine Menge von bestimmten Personen zurückgeführt werden. In Satz (2) hingegen ist dies nicht so einfach. Denn hier umfaßt das "wir" vermutlich auch solche Deutsche, die längst verstorben und solche, die noch nicht geboren sind: Die soziale Entität läßt sich also nicht abgrenzen durch die Angabe derjenigen Personen, aus denen sie besteht.

Es gilt also, verschiedene Typen sozialer Entitäten zu unterscheiden und jeweils getrennt ihre Individuierung zu untersuchen. Für diesen Teil kann auf Arbeiten zurückgegriffen werden, die bereits bestimmte soziale Entitäten oder soziale Entitäten unter bestimmten Hinsichten analysiert haben, etwa hinsichtlich des selbstreferentiellen Charakters sozialer System (Luhmann) oder hinsichtlich ihrer Strukturiertheit als Institutionen (Balzer).

Eng verbunden mit der Frage nach der Individuierung einer Entität sind Fragen der Identität. Zunächst ist die synchrone Identität zu untersuchen, also die Frage: Wann referieren zwei zeitgleiche Äußerungen des Personalpronomens "wir" (oder andere Ausdrücke, mit denen auf soziale Entitäten verwiesen werden kann) auf dieselbe soziale Entität?

Sodann stellt sich die Frage nach der diachronen Identität. Denn zu verschiedenen Zeiten kann auf dieselbe fortexistierende Entität referiert werden: Wann referieren zwei Äußerungen von "wir" (oder entsprechender anderer Ausdrücke), die zu verschiedenen Zeiten geäußert werden, auf dieselbe soziale Entität? Es ist aber auch möglich, zu ein und derselben Zeit über ein und dieselbe soziale Entität zu verschiedenen Zeiten zu sprechen; z.B.: "Heute haben wir zwei Tore geschossen, zweimal soviel, wie wir letzte Woche geschossen haben. Hoffentlich sind wir auch nächste Woche, beim Heimspiel, wieder so erfolgreich." Auch hier gilt es wieder, für verschiedene Typen sozialer Entitäten die jeweiligen Identitätskriterien zu analysieren.

Wie konstituieren soziale Entitäten ihre Identität?

Auch wenn das Pronomen "wir" eine große Bandbreite von Verwendungen zuläßt, so ist doch seine Referenz keine Sache des Zufalls. Sonst könnte dieses Pronomen wohl kaum kommunikativ erfolgreich verwendet werden. Andererseits fallen soziale Entitäten auch nicht vom (Ideen-) Himmel. Das kommunikativ erfolgreiche Referieren auf eine soziale Entität setzt voraus, daß ein entsprechender Konstituierungsprozeß stattgefunden hat, in dem sich die Identität der sozialen Entität herausgebildet hat. Da eine soziale Entität aus Sprechern zusammengesetzt sein kann, die alle mit "wir" auf diese Entität verweisen können, kann man sagen, daß eine soziale Entität ihre Identität selbst konstituieren kann. Leitfragen zur Untersuchung dieses Prozesses der Identitätsbildung können sein:

  • Welche Personen werden zu dieser sozialen Entität gezählt, welche nicht?
  • Welche essentiellen oder akzidentellen Eigenschaften werden der sozialen Entität zugeschrieben?
  • Wie wird die Vergangenheit und die Zukunft der sozialen Entität vorgestellt?
Vor allem für die Frage nach der Vergangenheit einer sozialen Entität werden die zahlreichen Arbeiten hilfreich sein, die in jüngster Zeit insbesondere von Jan und Aleida Assmann zum "kulturellen Gedächtnis" veröffentlicht worden sind. Von besonderem rechtsphilosophischem Interesse ist, daß diese Mechanismen der Selbstkonsitution auch auf der politischen Ebene gilt: Was die jeweiligen Staaten unter ihrem Staatsein verstehen, ist zunächst einmal Sache dieser Staaten selbst (von Böckenförde; Margalit). Auf der politischen Ebene aber ein zweiter Mechanismus wichtig, der zur Konstiuierung bestimmter sozialer Entitäten, wie z.B. von Staaten, essentiell ist: die Anerkennung durch andere Entitäten dieses Typs. (Zum Begriff der Anerkennung vgl. v.a. die Arbeiten von Honneth und Taylor.)

Sozialethische Aspekte

Die Ontologie sozialer Entitäten hat eine große sozialethische Relevanz. Denn zu denjenigen sozialen Entitäten, die ihre Identität selbst konstituieren, gehören demokratische Staaten wie die Bundesrepublik. Hier ergeben sich wichtige rechtsphilosophische und sozialethische Fragen:

  • Nach welchen normativen Überlegungen soll ein demokratischer Staat seine Identität konstituieren?
  • Welche Personen ordnet er sich mit welcher Begründung zu?
  • Welche essentiellen Eigenschaften schreibt er sich zu?
  • Für welche Vergangenheit steht er mit welcher Bewertung ein?
  • Welche Zukunft wünscht er sich?
Eine genauere ontologische Theorie sozialer Entitäten wird erlauben, die ethischen und politischen Aspekte dieser Fragen sachlicher und präziser zu diskutieren. Aktuelle Anwendungsfälle solcher sozialphilosophischer Überlegungen gibt es mehr als genug:
  • die Frage nach dem Gedenken an den Holocaust, die durch die Walser-Bubis-Debatte wieder neu gestellt worden ist und die auch die Auseinandersetzung um das Berliner Holocaust-Denkmal prägt,
  • die Debatte um den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses und den Abriß des "Palastes der Republik",
  • Fragen der Namensgebung (z.B. "Wilhelms-Universität" oder "IG-Farben-Haus")
  • und überhaupt die Diskussion um eine "nationale Identität" oder eine "Leitkultur".
Diese politischen Streitfragen bieten einerseits ein reiches Reservoir von Beispiel-Material für die philosophische Analyse, andererseits aber auch wichtige Anwendungsfelder für die zu entwickelnde Ontologie sozialer Entitäten.

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