DIE PHILOSOPHIN

Forum für feministische Theorie und Philosophie


Philosophin 21

Zeit/Alter


EINLEITUNG

 

Daß nichts so veraltet sein kann wie das Jüngstvergangene kennen wir aus der Mode. Woher aber kommt dieses Gereiztsein, wenn man mit dem eben noch Aktuellen konfrontiert wird? Der Anblick, ja allein die Erinnerung an die Accessoirs der vergangenen Saison lösen leicht einen körperlichen Widerwillen aus, der sich schnell in ein Gefühl der Verachtung steigert. Nehmen wir nur als Beispiel den Unmut, den der schwarze Ledermantel vom letzten Herbst erregt, oder die schwarzglänzenden viereckigen Schuhe dieses Winters. – Oder denken wir an das Millenium! Die Jahrtausendwende – ein Modeartikel? Zumindest ist das Ereignis, auf das hin man schon als Kind sein Alter abgezählt hat, bereits ein halbes Jahr nach dem 1.1.2000 ein “alter Hut”. Vor kurzem noch herbei gehofft, gefürchtet und erwartet, löst das “Millenium” zur Zeit im besten Fall ein Gähnen aus, im schlimmsten wüste Beschimpfungen.
Vielleicht sollte man es, so wie den Ledermantel, weghängen und die Zeit ihre Arbeit tun lassen? Vielleicht sollten wir in vier, fünf Jahren eine Nummer mit dem Schwerpunktthema “Millenium” machen, um auf der, dann vielleicht bereits anlaufenden Nostalgiewelle ganz vorne mitzuschwimmen.
Was aber, um auf die Ausgangsfrage dieser Nummer mit dem Thema “Zeit/ Alter” zurückzukommen, hat es mit dem Unmut auf sich, den wir gegen das Jüngstvergangene empfinden? Hat das Gereiztsein damit zu tun, daß uns das Vergehen des eben noch Aktuellen gerade wegen der fehlenden zeitlichen Distanz zur Gegenwart mit der eigenen Vergängnis konfrontiert?
Je tiefer wir uns auf das Thema Zeit/Alter und auf die Verbindung der Erfahrung und des Begriffs Zeit mit dem Begriff und der Erfahrung des Alters einließen, desto aufregender und zugleich komplexer wurden die möglichen Antworten, die schnell zu Plattformen für neue Fragen wurden. Es ist der bekannte Schwindel, der sich einstellt, wenn man versucht, die Zeit zu denken. Und der sich noch verstärkt, wenn man das eigene Älterwerden nicht ausspart, sondern mitzudenken versucht. Die Gelegenheit, das Ereignis eines Jahrtausendwechsels teilnehmend beobachten zu können, wurde uns schließlich zum Anlaß, die Zusammengehörigkeit von Zeit, Alter und Zeitalter aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten.
Dabei war es uns bei der Zusammenstellung der Beiträge wichtig, daß die leicht ins Abstrakte sich verflüchtigenden Wege des Nachdenkens über die Zeit und das Alter sich anhand konkreter Fragestellungen und Zeiträume ihres Gegenstandes versicherten. Jeder der Beiträge geht aus von einem uns heute immer noch mehr als die Zeitenwende selbst beschäftigenden Ereignis des letzten Jahrhunderts. Und in jedem der Beiträge steht manchmal mehr im Vordergrund und manchmal mehr hintergründig die Frage zur Disposition, wie sich, nach den zerstörenden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, Geschichte denken und sich von Geschichte erzählen läßt. Es steht viel dabei auf dem Spiel. Nicht zuletzt, wie insbesondere Elke Heckner in ihrem Essay über das Verhältnis von Queerness und geschlechts- und altersspezifischer Kodierung von Hollywoods Starsystem aufzeigt und worauf auch die Schriftststellerin Esther Dischereit gleich zu Beginn unseres Gesprächs hinweist, die Bewahrung vor einem bis in die Psychose führenden Wirklichkeitsverlust. So beantwortet Esther Dischereit die Frage nach dem Zusammenhang von gelebter Zeit und aufgeschriebenem Leben mit der Warnung: “Die zum Schreiben notwendige Öffnung hat ihre Grenze in der eigenen Beschränktheit, auch in dem Tabu des Wahnsinns und der persönlichen Verletzung”. So wäre, wenn denn die Zeitlichkeit als Ausdruck der “eigenen Beschränkheit” gelten kann, die Wahrnehmung der Zeit und ihrer historischen Dimension ein Remedium gegen den Realitätsverlust und gegen die Realitätsflucht.
Wie bedrohlich und wie zerstörend Geschichte in das Leben der Nachgeborenen einbrechen kann, hat Esther Dischereit in ihren Büchern, Romanen, Hörspielen, Theaterstücken und Gedichten viele Male dargestellt. In “Joemis Tisch”, ihrem ersten Roman, beschreibt sie die Erinnerungen an eine jüdische Kindheit im Nachkriegsdeutschland. Es sei, so sagt sie, kein Buch der Erinnerung, “sondern des überwältigenden, gewaltsamen Einbruchs der Geschichte bzw. der Erinnerung in eine Gegenwart, gleich einem eruptivem Vorgang”. Und zugleich konnte dieser Einbruch erst geschehen, nachdem die Angst nachgelassen hatte, die Angst, die die Geschichte gewaltsam zu unterdücken zwang, die Angst vor den Nazis, die auch in der Nach-Nazi-Gesellschaft nicht einfach verschwunden war. “Ich habe das Schreiben”, so Dischereit, “wahrscheinlich nötig gehabt, um die Berührtheit durch die Vergangenheit”, und damit meint sie nicht nur die nationalsozialistische Vergangenheit, “als etwas Gegebenes zu sehen”. So ist denn das Öffnen, das sich im Schreiben vollzieht, in jenem Sinn ein Risiko, in dem alles Unbekannte, jede Offenheit für eine neue Erfahrung das Moment der Gefahr beinhaltet. Für Esther Dischereit heißt mit der Zeit leben, sich in der Zeit einzubetten, sich ihr auszuliefern und dies zusammen: daß die Endlichkeit und die Sterblichkeit einen Raum im Leben zurückerhält. Frauen sind in ihrem Schreiben häufig “Trägerinnen der Geschichte” und finden über die Entschlüsselung der sie umgebenden und in ihnen sprechenden Stimmen zur Geschichte, zu der neben der Vergangenheit eine Gegenwart und eine Zukunft gehört.
Was es heißt, in der Repräsentation eingeschlossen zu sein, und welche Folgen die geschlechtsspezifische Kodierung des Alters und der Zeitlichkeit für die Darstellerinnen der Überzeitlichkeit haben, zeigt eindrücklich Elke Heckner in ihrer Durchquerung des hollywoodschen Starsystems Zeitlose Ansprüche: Sunset Boulevard und die gefallene Diva. Billy Wilder, kürzlich mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, hat mit “Sunset Boulevard” im Jahr 1950 nicht nur einen Film gedreht, der, zu den selbstreflexiven Hollywoodfilmen der 50er Jahre gehörend, die Verdrängung der eigenen Geschichtlichkeit im Medium Film thematisiert, sondern der, indem er dies wiederum im Medium der alternden Filmdiva tut, zugleich die Gewalt deutlich macht, mit der das System den Frauen, die die Unsterblichkeit des Mediums repräsentieren, diesen Frauen das Recht auf eine Geschichte und das Recht auf eine ihnen eigene Zeitlichkeit raubt. Wie sehr das Hollywoodkino, das seine Faszination aus diesem, die Zeitlichkeit ausschließenden, psychotisch strukturierten Repräsentationssystem unsere Wirklichkeit mitgeprägt hat und es immer noch tut, wird deutlich, wenn man bedenkt, daß das 20. Jahrhundert im Rückblick als Zeitalter des Kinos charakterisiert und beschrieben werden kann.
Nicht zuletzt gegen diese immer mehr die Alltäglichkeit bestimmende Struktur schreibt, wie Dana Hollander in ihrem Beitrag Messianische Gespenster sehr klar und sehr genau zu zeigen vermag, Jacques Derrida in seinem im deutschen Sprachraum bisher wenig und keineswegs adäquat rezipierten Buch “Marx‘ Gespenster” an. In diesem 1993, kurz nach dem Fall der Mauer in Frankreich erschienen Buch nimmt Derrida einen Begriff wieder auf, den er seit seiner kritischen Auseinandersetzung mit Levinas 1967 nicht mehr benutzt hatte: den Begriff des Messianischen. Er greift diesen fragwürdigen Begriff in dem Moment auf, in dem durch den Fall der Mauer ein Ereignis eingetreten ist, das vollkommen unabsehbar, nicht abzuleiten und nicht im Voraus zu berechnen war. Derrida führt - wie Dana Hollander zu zeigen vermag - den Begriff des Messianischen ein, “um einer bestimmten Art von Zeit- und Geschichtserfahrungen Rechnung zu tragen, insbesondere Erfahrungen oder Phantasien eines 'Endes der Geschiche‘ oder Beschwörungen eines 'Endes der Philosophie‘”. Behutsam und indem sie Derridas Verfahren mit dem Denken Rosenzweigs, Heideggers und Levinas´ vergleicht und gegen diese absetzt, führt Dana Hollander vor, was es heißt, gegen das Ende der Geschichte und gegen das Ende der Philosophie anzudenken, indem man das Ende der Philosophie und jenes der Geschichte zu denken versucht. Und dies immer in dem Versuch, der Unsicherheit der geschichtlich-zeitlichen Situation Rechnung zu tragen, um das besser zu verstehen, was Derrida Ereignis nennt und was unsere Erfahrung von Geschichte und von Zeit betrifft.
Einen Einblick in die Geschichte des philosophischen Nachdenkens über das Altern vermittelt Eva Birkenstock in ihrem Aufsatz Altern - Dialektik eines Themas zwischen Antike und Moderne. Bei der vorsokratischen Lyrik beginnend, stellt sie anhand von vielen Quellen-Zitaten dar, daß es bereits in der Antike “Ansätze eines existentiellen Denkens von erstaunlicher Modernität” gab. Weit davon entfernt, das Alter einseitig zu idealisieren oder auf der anderen Seite eindeutig zu verwerfen, wird es vielmehr in seinen Vorzügen wahrgenommen und in seinen Nachteilen beklagt. Zu den Vorzügen des Alters gehörte in der Antike der Schatz der Erfahrungen und des Wissens, den man sich in der langen Lebenszeit erworben hat. Im Unterschied dazu scheint bei den AutorInnen des 20. Jahrhunderts, Eva Birkenstock nimmt als Beispiel Simone de Beauvoir, Jean Améry und Norberto Bobbio, der Verfall, der mit dem Altersprozess einhergeht, nichts Positives zu beinhalten. Dabei bezieht sich einzig Bobbio auf eine Sammlung von Interviews mit alten Menschen, die ihn, wie er schreibt, “mehr zum Nachdenken über das Leben und den Tod angeregt habe, als eine philosophische Abhandlung”. Ihm folgend, läßt sich Eva Birkenstock ihrerseits von den Berichten der alten Menschen inspirieren, um einige Bedingungen zu formulieren, unter denen das Altern eine Phase glückenden Lebens sein kann.
Vor etwas mehr als hundert Jahren hat Sigmund Freud im Zug von Berlin nach Wien einen kurzen Text zu schreiben begonnen, der für immer im Stadium des Entwurfs bleiben sollte und der, wenn es nach Freud gegangen wäre, nie an die Öffentlichkeit gelangt wäre. Es ist der Entwurf, in der Deutung von Mai Wegener, ein - vielleicht das gewagteste – Experiment von Freud. In ihrem Beitrag Freuds Experiment stellt sie eine genaue Lektüre des Entwurfs vor und zeigt, daß es Freud mit der Erfindung der Psychoanalyse um Nichts geringeres ging, als zu zeigen, was Denken ist. Anders als seine (philosophischen Vorgänger) hat Freud Denken bereits im Entwurf nicht 'an sich‘, sondern 'im Verhältnis‘ zu bestimmt; - im Verhältnis zu dem, was dem Denken unzulänglich bleibt und ihm vorausgeht. In einer minutiös genauen Lektüre rekonstruiert Mai Wegener die Erfahrung, die ein Experiment des Denkens mit sich selbst darstellt und die dem im Entwurf begründeten Satz vorausgeht: “Bewußtsein und Gedächtnis schließen sich aus”. Es ist die Erkenntnis, in der das Denken seine Grenze findet und die Freud zu der These führen wird, daß das Unbewußte die (lineare) Zeit nicht kennt. Ein Satz, der wiederum beitragen könnte zur Beantwortung der Frage, warum das längst Vergangene uns zu Zeiten so sehr beschäftigt, daß für die Gegenwart beim besten Willen kein Raum und keine Zeit mehr bleibt.
Gerade weil dem so ist, soll das letzte Wort Esther Dischereit haben, die auf die Frage,
was sie sich für das neue Jahrtausend am meisten wünscht, antwortet: “Ich liebe meine Kinder und hoffe, sie werden durch die Schule hindurchgehen ohne grösseren Schaden.” Es ist, angesichts der real stattfindenden gesellschaftlichen Verhältnisse eine nur scheinbar bescheidene Hoffnung, die wir gerne mit ihr teilen.

 

Die Herausgeberinnen