DIE PHILOSOPHIN

Forum für feministische Theorie und Philosophie


Philosophin 17

Phantasie


EINLEITUNG

 

"Meine Theorie perversen Begehrens", so hatte uns Teresa de Lauretis im Interview für die Philosophin 15/97 geantwortet, ist "eine leidenschaftliche Fiktion und sie ist eine, die mein Leben und mein Begehren weit besser repräsentiert als es der Ödipuskomplex tut." Die Theorie als leidenschaftliche Fiktion - , wäre dies der Ausgangspunkt, von dem aus die Frage nach der Geschlechterdifferenz und dem Verhältnis von Geschlecht, Bild und Denken noch einmal gestellt werden könnte? Was passiert, wenn der Ödipuskomplex zur Ödipusphantasie erklärt und die Psychoanalyse zur leidenschaftlichen Fiktion? Zum ersten wird deutlich, daß ausschlaggebend für die "Wahrheit" einer Theorie nicht deren Übereinstimmung mit der Realität ist. Und zum zweiten, daß die Frage nach der Wirklichkeit in der leidenschaftlichen Fiktion gerade wegen ihrer Fragwürdigkeit eine gewaltige Rolle spielt.

Die Frage, die dieser Ausgabe der PHILOSOPHIN mit dem Themenschwerpunkt Phantasie zugrundeliegt, lautet - um an Lauretis Aktualisierung des Phantasiebegriffes anzuschließen - ob für die Wiedergewinnung von Realität, im Sinne einer adäquateren Einschreibung der Geschlechterdifferenz in die Repräsentation, der Umweg über die Phantasie nicht unumgänglich ist.

Die Phantasie sei, so Christina von Braun im Gespräch für diese Nummer, "das Bewahren von Räumen, die mit der Realität nicht übereinzustimmen brauchen, die überhaupt nicht den Realitätsanspruch stellen, also nicht die Möglichkeit beanspruchen, materiell oder sichtbar zu werden". Zugleich hält sie es geradezu für eine Frage des Überlebens, daß den Phantasien die Dimension des Unsichtbaren zurückgegeben werden. Dahinter verbirgt sich kein Bildersturm, wohl aber ein Bedenken gegen eine Tendenz, die sie als "Materialisierung des Imaginären" bezeichnet und die Fleischwerdung von Phantasien meint. Den Phantasien die Dimension des Unsichtbaren zurückzugeben ist gleichbedeutend mit der Aufgabe, die Christina von Braun an die Intellektuellen stellt: die Wirklichkeit der Wirklichkeit in Frage zu stellen. Und das heißt, den fleischgewordenen Phantasien und schwer lastenden Definitionskörpern ihre Geschichtlichkeit wiederzugeben. Das wiederum geht, wie uns die Geschichte der Philosophie zeigt, nicht ohne das Vermögen der Phantasie.

Die Phantasie - ein zwielichtiges Vermögen der Kunst und des Wahns - hat die Philosophie immer wieder an- und abgestoßen. Wissen und Wahn, Realität und Traum, Wahrheit und Irrtum, Begründung und Täuschung, Wissenschaft und Fiktion, ja selbst das Gedächtnis gründet im Vermögen der Einbildungskraft. Ohne Phantasie ist keine Realität, kein begründetes Wissen zu haben und zugleich ist sie es, die in den Wahn, in die Täuschung und die Realitätsverfehlung führt. Die Phantasie ist jenes Vermögen, das zwischen Körper und Wissen, zwischen Wahrnehmung und Denken, zwischen Bild und Erkenntnis vermittelt. Phantasie, die Kraft der Vorstellung, das Vermögen der Repräsentation liefert der Erkenntnis den Stoff, ohne den es nichts zu erkennen, nichts zu denken und nichts zu konstruieren oder zu systematisieren gäbe. Das war immer schon so, zumindest seit es die Philosophie als Versuch einer Antwort auf die Frage gibt, was wahr und real sei, und wie sich eine Täuschung als solche zu erkennen gibt.

Nach der berühmten Definition von Aristoteles ist die Phantasie jenes Vermögen, das dem Denken Vorstellungsbilder zur Verfügung stellt, auch wenn die Quelle der Bilder - was immer das sei, nennen wir es, das Wahrgenommene - nicht präsent ist. Damit wird sie zu einer Voraussetzung für die Erkenntnis erklärt, denn die Seele denkt, so Aristoteles in seinem berühmten Satz, der Jahrhunderte nachklingen sollte, nie ohne Bilder.

Hinter diese Bilder kann es nicht zurück, deren Entstehungsgeschichte entgeht ihm. So beginnt das Denken immer erst auf der Linie des Bruches zwischen dem Vorstellungsbild und dem, was einmal seine Quelle gewesen sein mag. Die Phantasie ist mithin der Ort, an dem die Frage nach der Wahrheit entsteht - und zugleich der Ort, in dem der Irrtum gründet. Denn wer weiß - und wie soll man es wissen, ob die Bilder der Phantasie in die Realität oder den Traum, die Vergangenheit oder die Zukunft, in die Ordnung oder das Chaos führen - auf was sie sich beziehen, was sie referieren?

Dies steht - buchstäblich - in den Sternen. Der Zusammenhang von Phantasie und wissenschaftlicher Erkennntis, den Aristoteles begründete, erscheint heute als Faszination der Science Fiction Filme und des Cyber Space. Dabei ist es durchaus kein Zufall, daß sich die wissenschaftlichen Phantasien bevorzugterweise auf das Weltall und die Astronomie beziehen. Vielmehr kommt darin die Herkunftsgeschichte des Begriffes selbst zur Geltung. So bedeutet phainomenon das Erscheinende, das Einleuchtende, die Himmelserscheinung - eben die Sterne. Der Begriff des Phänomens bedeutet später überhaupt Naturerscheinung und damit den Gegenstand, mit dem sich die Wissenschaften beschäftigen. Phänomen - die Erscheinung - es ist das, was es zu erkennen und zu begründen, zu deuten und zu berechnen - dem die Realitätsversicherung - gilt.

Unabhängig vom Vermögen der Einbildungskraft läßt sich keine Erkenntnistheorie schreiben. So rekurriert auch Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft auf die Einbildungskraft, um das Zustandekommen der "synthetischen Einheit der Apperzeption" herzuleiten, jenen "höchsten Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganz Logik, und nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muß". In der Tradition von Aristoteles definiert er die Einbildungskraft als "Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen". Doch - wie entgeht Kant dem oben beschriebenen Paradoxon? Indem er die Einbildungskraft differenziert: in eine produktive und eine rezeptive Einbildungskraft und diese Unterscheidung spezifiziert, indem er - dies allerdings erst in der Anthropologie - die Phantasie als "Unwillkürliche Einbildung" defininiert und diese wiederum unterteilt in eine "zügellose" und eine "gezähmte" Phantasie. Doch scheint ihn auch dieser Weg nicht wirklich aus dem Dilemma zu retten: "Wir spielen oft und gern mit der Einbildungskraft; aber die Einbildungskraft (als Phantasie) spielt eben so oft und bisweilen sehr ungelegen auch mit uns." Und es scheint uns kein Zufall, daß er - wenn auch nur in einer Fußnote - im Zusammenhang mit dem Spiel, in das uns die Einbildungskraft verwickelt auf die ominöse Frage stößt, die die dem Denken den Boden zu rauben und alle Differenzierungen zu entkräften droht: "Was mag wohl die Ursache davon sein, daß alle organische Wesen, die wir kennen, ihre Art nur durch die Vereinigung zweier Geschlechter (die man dann das männliche und weibliche nennt) fortgepflanzt werden?...In welchem Dunkel verliert sich die menschliche Vernunft, wenn sie hier den Abstamm zu ergründen, ja auch nur zu erraten es unternehmen will?"

Zu beschreiben, was das Geschlecht ist, käme, nimmt man Kant an dieser Stelle ernst, dem Versuch gleich, die Ursprungsfrage zu stellen. Die aber überfordert - wie er in der Kritik der reinen Vernunft gezeigt hat - die Erkenntnis. Die Frage, sie stellt sich immer wieder und stellt die Vernunft beim Versuch, sie zu beantworten, genauso oft bloß. Sie führt immer wieder hin auf das Spiel, in das die Phantasie uns verwickelt.

Warum also die Phantasie nicht ernst nehmen?

Für Lou André Salome gründet die Ursprungsphantasie, wie die holländische Philosophin J. J. Hermsen in ihrem Beitrag "Phantasie und Narzißmus" darstellt, in jenem "Traum aus urgrauen Zeiten", in dem das Ich identisch ist mit der Fülle der Welt und kein Zwiespalt das Verhältnis zur Welt trübte. Es ist ein immer wieder geträumter Traum der "Allfülle", den Salomé in ihrem eigenwilligen Konzept des Narizißmus erkundete. Dabei stützt sie sich weniger auf Beobachtungen "des Kindes" als auf ihre eigenen Kindheitserinnerungen. Sie erinnert Puppenspiele, ihren kindlichen Glauben an den lieben Gott, der ihr half, die imaginäre Welt mit der Wirklichkeit zu verbinden und sie erinnert schließlich jenes traumatische Ereignis, das sie mit der Leere konfrontierte, die kein lieber Gott mehr füllen konnte: Das endgültige Schmelzen von zwei Schneemännern.

Sie erinnert auch den Spiegel. Aber wie anders, als wir ihn durch die Augen von Lacan zu sehen gewohnt sind! "Wenn ich da hineinzuschauen hatte, dann verdutzte mich gewissermaßen, so deutlich zu erscheine, daß ich nur das war, was ich da sah: so abgegrenzt, eingeklaftert: so gezwungen, beim Übrigen, sogar Nächstliegenden einfach aufzuhören." Salomé nimmt ihre Erinnerungen ernst, und so liefert sie eine höchst eigenwillige Deutung des Spiegelerlebnisses des Ovidschen Narziß: Man dürfe, so wendet sie einleitend ein, nicht vergessen, daß Narziß nicht in einen "künstlichen", sondern in den Spiegel der Natur geschaut hätte, und fragt in Anschluß daran: "..vielleicht nicht nur sich im Wasser erblickend, sondern auch sich als alles noch, und vielleicht hätte er sonst nicht davor verweilt, sondern wäre geflohen?"

Joke Hermsen zeigt in ihrem Beitrag, wie Salomé, ausgehend von ihren eigenen Erinnerungen an die narzistische Phase des Kindes die sexuelle Differenz als erweiterten Raum denkt, der die Möglichkeit eines "sich selbst Differenzierens" eröffnet "durch die Regression zum präbinären und polyvalenten Selbst", die Hermsen als Möglichkeit der "Neuinterpretation der eigenen sexualisierten Identität" deutet. Dabei spielt der Bindestrich im Mann-Sein und Frau-Sein jene Bedeutung, die der Phantasie immer neue Räume eröffnet, in dem er auf den Bruch hinweist, den das Subjekt verkörpere.

Wie leicht freilich die Betonung des Bruches, der Zerstückelung, des Fragmentierten und Nicht-Ganzen selbst zur Obsession geraten und theoretische Phantasien wider Willen gebären kann, macht die Kunstwissenschaftlerin Ann-Sophie Lehmann eindringlich deutlich. "Der Traum vom zerstückelten Körper" lautet der Titel ihres Beitrages, in dem sie der von Lacans "Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion" inspirierten feministischen Kunstkritik an Ganzheitsphantasien und deren Fixierung auf den fragmentierten Körper ihrerseits eine Polarisierung zwischen ganzem und zerstückelten Körper vorwirft. Es seien einfach die Vorzeichen umgekehrt worden, so daß die Bilder des Fragmentierten die Wahrheit, die Bilder des ganzen Körpers auf der anderen Seite die repressiven Vollständigkeitswünsche repräsentierten. "Aber ist die Heroisierung des Fragments nicht ebenso ein Konstrukt wie der "Ganze Körper"?" fragt Lehmann und gibt zu bedenken: "Während dieser eine Konstruktion auf der Bildebene darstellt, ist der fragmentarisierte Körper mittlerweise zur theoretischen Phantasie geworden, die mit dem Problem der Repräsentation von Körpern in der Kunst nur noch wenig zu tun hat."

Das Problem der Kunst ist eben nicht nur ein Problem der Repräsentation, sondern auch der Produktion, und dabei ist die Künstlerin, der Künstler nicht unabängig von den materiellen und technischen Vorgaben des künstlerischen Prozesses. Im Rekurs auf die materielle und technische Seite der Kunstproduktion stellt Lehmann dar, daß die Kunsttechnik selbst bereits auf der gegenseitige Verweisung von ganzem und zerstückeltem Körper beruht. Dabei zeigt sich, wie eng Phantasie und Technik zusammenarbeiten. In Erinnerung an den Enstehungsprozeß der Bilder befreit Ann-Sophie Lehmann die Bilder - etwa von Dürer - aus dem Korsett, das "Bild vom Ganzen Körper" repräsentieren zu müssen, und gibt der Phantasie wieder den ihr zukommenden Leer- und Freiraum.

Entlang der Lektüre von zwei Texten aus der hebräischen Autobiographik zeigt die Judaistin und Literaturwissenschaftlerin Inka Arroyo Kosenina schließlich, daß die Phantasie eine konstitutive Funktion auch und gerade für die Erinnerung an das eigene Leben in der Form einer "Selbsterlebensbeschreibung" hat. Beides sind Texte, die in doppelter Weise im Verborgenen tradiert und erst Ende des 19. Jahrhunderts gedruckt wurden. Beide, sowohl die Renaissance - Autobiographie von Abraham Jagel als auch die Haskala-Autobiographie von Jakob Emden haben den Charakter von Rechtfertigungen, sind in Situationen von Krisen entstanden und zeugen von den Verbotsspannungen, die sowohl das beschriebene Leben als auch die Texte durchkreuzen.

Beides sind männliche Selbstentwürfe, und in beiden spielt eine weibliche Figur, sowohl im realen als auch im erinnerten und beschriebenen Leben, eine Hauptrolle. In einer nah an den Texten sich bewegenden Lektüre zeichnet Inka Arroyo Kosenina die "fiktionale Spannung der autiobigraphischen Texte nach, um die Frage zu beantworten, wofür jeweils die imaginierte Präsenz des anderen Geschlechts steht.

Dabei zeigt sich, daß die weiblichen Figuren in zweifacher Weise der fiktionalen Selbstvergewisserung dienlich sind: Als Spiegel, in dessen Rahmen die fiktionale Organisierung des Lebens eröffnet wird und zugleich als Abgrund, der als Ursache der Realitätsverfehlung verworfen wird. Das "andere Geschlecht" repräsentiert zugleich die produktive, - um mit Kant zu reden - die gezähmte und die gefährliche, die zügellose Phantasie. Dabei wird die Geschlechterdifferenz in "ständiger Grenzerfahrung markiert", während auf der gezogenen Markierung das autobiographische Selbst konstruiert wird.

Zum Schluß enthält dieses Heft einen zwar nicht vollständigen, doch durchaus repräsentativen Überblick über die verschiedenen, in jüngster Zeit gleichzeitig entstandenen Studiengänge und Zentren, in denen Gender Studies nun nicht mehr allein die Forschung bestimmen, sondern erstmalig institutionalisiert in die Lehre der Alma Mater einfließen. Dieser Überblick knüpft direkt an den Bericht über das Doktorandinnenkolleg in Bremen in der letzten Nummer der PHILOSOPHIN an und wird in der nächsten Nummer mit einer Vorstellung des neugegründeten Kollegs in Essen fortgesetzt.

 

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