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FORSCHUNG

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Geständnismotivierung

Interdisziplinäres Projekt zur Erforschung der Geständnismotivierung im Strafprozess seit 1780

Prof. Dr. Jo Reichertz, Kommunikationswissenschaft, Universität Duisburg-Essen, Standort Essen

Prof. Dr. Manfred Schneider, Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum

Wie kann jemand im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens zu einem Geständnis motiviert werden? Welche gesellschaftlich legitimen Gründe werden dabei angesprochen? Das Projekt Geständnismotivierung will die Antworten auf diese Fragen in ihrer Entwicklung nachzeichnen. Dabei wird die Verhör- und Vernehmungspraxis ebenso untersucht wie die Theorien über das Geständnis. Als Material dienen Verhörprotokolle, Vernehmungstranskripte und Experteninterviews auf der einen, Falldarstellungen, Ratgeber und wissenschaftliche Texte auf der anderen Seite.

Jo Reichertz/Manfred Schneider(Hgg): Sozialgeschichte des Geständnisses. Zum Wandel der Geständniskultur. Wiesbaden: VS Verlag 2007.

Projektbeschreibung

Das Schuldeingeständnis im Strafverfahren ist keine triviale Sprechhandlung, sondern beruht auf komplexen Voraussetzungen. Es geht daher um die Frage: Vor welchem Horizont von eingespieltem Wissen und Verhalten kann ein Untersuchungsbeamter einen Beschuldigten zum Schuldgeständnis veranlassen?

Ansatz des Projektes
Wenn ein Geständnis abgelegt wird, greifen kulturelle, rechtliche und soziale Beweggründe ineinander. Das Forschungsprojekt Geständnismotivierung erschließt das damit umrissene Problemfeld unter drei Aspekten:
- es werden Dokumente aus der Praxis und Falldarstellungen analysiert, die für die allmählich herbeigeführten Motivationen zum Geständnis aufschlussreich sind.
- es werden die Diskurse über das Geständnis untersucht, die die tatsächliche Geständnispraxis interpretieren und auf sie zurückwirken.
- historische 'Tiefenbohrungen' ermöglichen Erkenntnisse über die Entwicklung und den Stellenwert des Geständnisses in unserer Kultur.

Was heißt Geständnismotivierung?
Seit der Abschaffung der Folter in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts steht die Beschuldigtenvernehmung unter grundlegend veränderten Vorzeichen. Weshalb soll der Beschuldigte einen Sachverhalt einräumen, wenn dieses Geständnis weitreichende Folgen für ihn hat? Wie kann ein Vernehmer ohne Zwangsmittel eine Gesprächsbereitschaft herstellen und mit deren Hilfe die sogenannte 'materielle Wahrheit' aufdecken?
Vernehmer müssen zu einer Gesprächs- und Geständnisbereitschaft motivieren. Dazu beziehen sie sich auf soziokulturell verankerte Motivationen. Sie unterstellen, dass diese Motivationen beim Beschuldigten einen 'inneren Druck' erzeugen können, der für ein glaubhaftes Einräumen der zur Last gelegten Tat ausreicht. Motivationen sind die gesellschaftlich legitimierten Gründe für ein Geständnis.
Diese gesellschaftlichen Motivationen sind nicht direkt sichtbar, sondern nur auf dem Wege der Deutung rekonstruierbar. Dabei muss unterschieden werden zwischen der Selbstdeutung der Beschuldigten und den Fremddeutungen der Vernehmer.

Methode
Der Komplexität des Gegenstandes entspricht die interdisziplinäre Ausrichtung. Mit der verstehenden Wissenssoziologie und der historischen Diskursanalyse verzahnt das Projekt zwei einander ergänzende Perspektiven und hermeneutisch operierende Verfahren.
Die hermeneutische Wissenssoziologie eröffnet einen Zugang zur Praxis der Vernehmung und der innerhalb dieser Praxis immer schon stattfindenden Typisierungen.
Die historische Diskursanalyse ermöglicht eine Beschreibung der Diskurse über diese Praxis sowie ihrer historischen Voraussetzungen und Verschiebungen.

Aufbau und Ziele
Das Projekt möchte mittels dreier empirisch gesättigter 'Tiefenbohrungen' die im Geständnis wirksamen Selbst- und Fremdtypisierungen zu drei bedeutsamen Zeitpunkten ermitteln:
- das Inquisitionsverfahren nach Abschaffung der Folter etwa zwischen 1780 und 1820
- die polizeiliche Vernehmung mit Aussagefreiheit nach Einführung der Reichsstrafprozessordnung etwa zwischen 1880 und 1910
- die gegenwärtige Vernehmungspraxis und 1980 bis 2000, die insbesondere von der Belehrungspflicht gekennzeichnet ist.
Dabei sollen nur jene Motivierungen zum Geständnis ermittelt werden, die im jeweiligen Zeitraum zum legitimen Repertoire der Vernehmungsstrategien gehören. Das Gesamt der Selbst- und Fremddeutungen zum Geständnis liefert zusammen mit den Diskursen über das Geständnis nicht zuletzt Erkenntnisse über die 'Geständniskultur' unserer Gesellschaft.