Projektantrag

Inhalt

1. Zusammenfassung
2. Fragestellung
3. Untersuchungsdaten
3.1. Daten zur Selbst- und Fremddeutung von Geständnismotiven in konkreten Fällen
3.2. Datenerhebung zu Diskursen über Motivierung und Motivation zum Geständnis
4. Methodischer Ansatz des Projektes
4.1. Dateninterpretation und Validierung
5. Zum Stand der Forschung
5.1. Sozialwissenschaftlicher Forschungsstand
5.2. Diskurshistorische Forschungen zum Geständnis
6. Eigene Vorarbeiten
6.1. Sozialwissenschaftliche Forschungen zur Vernehmungspraxis
6.2. Forschungen zur Diskursgeschichte des Geständnisses
Literatur

1. Zusammenfassung

Das Forschungsvorhaben geht davon aus, dass das gerichtliche Schuldgeständnis keine triviale Sprechhandlung ist, die sich aus selbstverständlichen Gründen herleiten ließe, sondern auf komplexen, untersuchungsbedürftigen Voraussetzungen beruht. Vor welchem Horizont von eingespieltem Wissen und Verhalten kann ein Untersuchungsbeamter einen Beschuldigten zum Schuldgeständnis veranlassen? Um das Ineinandergreifen kultureller, rechtlicher, sozialer Beweggründe sowie tatsächlich erfolgter Geständnisakte aufzuklären, wird das Problemfeld unter drei Aspekten erschlossen. Es wird erstens das diskursive System, dem die Geständnispraxis aufruht, untersucht; dazu gehören einschlägige religiöse, psychologische, juristische Schriften sowie praktische Instruktionen der Untersuchungsbeamten und Richter. Zweitens werden gerichtliche Dokumente analysiert, die für die allmählich herbeigeführten Motivationen zum Geständnis Aufschlüsse enthalten; Materialgrundlage sind Falldarstellungen, polizeilich-gerichtliche Protokolle und Interviews beteiligter Parteien. Drittens wird die Untersuchung in einem historischen Längsschnitt durchgeführt, der es erlaubt, an den Veränderungen des diskursiven Systems, der rechtlichen Rahmenbedingungen sowie des Verhaltens von Untersuchungsbeamten und Beschuldigten Erkenntnisse über die Entwicklung und den Stellenwert des Geständnisses in unserer Kultur zu gewinnen. Der Komplexität des Gegenstandes trägt das Projekt durch eine interdisziplinäre Fragestellung Rechnung. Dabei kooperieren hermeneutische Wissenssoziologie, Kulturgeschichte sowie historische Diskursanalyse. Das gesamte Projekt steht unter der beratenden Teilnahme des renommierten Rechtssoziologen Prof. Dr. jur. Martin Morlok, Universität Hagen.

2. Fragestellung

Seit der allmählichen Abschaffung der Folter in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgt die Beschuldigtenvernehmung unter grundlegend veränderten Rahmenbedingungen (vgl. Bruns 1994, Schmoeckel 2000). Auf der Seite der Person, die einer Straftat beschuldigt wird, stellt sich nämlich die Frage, weshalb sie einen Sachverhalt einräumen soll, wenn dieses Geständnis weitreichende und teils sehr schwerwiegende unangenehme Folgen für sie hat. Auf der Seite der Vernehmer stellt sich die Frage, wie innerhalb einer polizeilichen (bzw. bis Mitte des 19. Jahrhunderts: innerhalb einer untersuchungsrichterlichen) Vernehmung (bei der kein Anwalt des Beschuldigten anwesend ist(1)), die Zwangsmittel ausschließt, zunächst eine Gesprächsbereitschaft hergestellt werden kann, und wie dann die Gesprächsbereitschaft genutzt werden kann, um aus dem Munde der beschuldigten Person die vermeintlich ‚materielle Wahrheit' hervorzulocken.(2)

Um beides, nämlich Gesprächs- und Geständnisbereitschaft zu erzeugen, bemühen sich die Vernehmer, die auf dem Wege der Sozialisation und Kulturisation erworbenen, mithin soziokulturell verankerten Motivationen anzusprechen. In unserer Kultur gilt das Geständnis - grob gesprochen - als eine positive, entlastende, sinnvolle, möglicherweise kathartische Handlung. Daher rechnen die Vernehmer (das zeigt die Forschungsliteratur - siehe Kap. 5 und 6) damit, dass der Appell an solche Motivationen (also nicht an spezifische persönliche Motive!) beim Beschuldigten einen ‚inneren Druck' erzeugen kann, der ihn dann zu dem Eingeständnis bewegt, die zur Last gelegte Tat begangen zu haben. Vermutlich weil beiden, Beschuldigtem wie Vernehmer, diese Motivationen geläufig sind und weil sie den Glauben an die in vielerlei Hinsicht positiven Effekte des Geständnisses teilen, appellierten und appellieren Vernehmer in der Vernehmungsinteraktion immer wieder mit großem Erfolg an solche Geständnis-Motivationen.

Von diesen gesellschaftlich/kulturell verankerten Motivationen (z. B. Entlastung des Gewissens, persönliche Ehre, Sühne, Strafvorteil etc.) sind sehr genau die lebensgeschichtlich erworbenen, individuell zurechenbaren psychologischen Motive (Minderwertigkeitsempfinden, Autoritätshörigkeit, Geltungssucht, persönliches Schuldgefühl etc.) zu trennen: Motivationen sind in diesem Verständnis die gesellschaftlich/kulturell vermittelten Beweggründe für ein Geständnis; Motive dagegen die in der Person und in der Psyche des Beschuldigten liegenden Antriebe, den gesellschaftlich/kulturell wirksamen Motivationen zu folgen und eine zur Last gelegte Tat zu gestehen. Dabei kann diese Motivation von selbst wirksam werden oder durch die vernehmende Person ins Spiel gebracht werden. Jedenfalls zeichnen die Motivationen die soziokulturellen ‚Pfade' zum Geständnis vor; die Motive sind wichtig für die Entscheidung, wann welcher Pfad gewählt wird. Diese individuellen psychischen Motive sind aus Sicht der Sozialwissenschaft unzugänglich, und deren Rekonstruktion kann deshalb auch nicht das Ziel sozialwissenschaftlicher Forschung sein. Vielmehr geht es allein um die Rekonstruktion der Geständnis-Motivationen, also der für unsere Kultur und für unsere Gesellschaft selbstverständlichen, vermeintlich anthropologisch verallgemeinerbaren, aber tatsächlich erst im Laufe der Geschichte zur Wirksamkeit gebrachten Gründe, eine Straftat zu gestehen.

Auch die in einer Vernehmungssituation wirksamen gesellschaftlich/kulturellen Motivationen sind nicht immer direkt sichtbar, sondern oft nur auf dem Wege der Deutung rekonstruierbar. Dabei muss fallweise unterschieden werden zwischen den Selbstdeutungen der Beschuldigten (welche Gründe aus dem Repertoire der Motivationen können mich dazu bewegen zu gestehen bzw. haben mich dazu bewegt zu gestehen?) und den Fremddeutungen der Vernehmer, Beobachter, Wissenschaftler und Rechtspolitiker (welche Gründe können den Beschuldigten dazu bewegen zu gestehen bzw. haben dies getan?). Erst das vollständige Dispositiv dieser Selbst- und Fremddeutungen macht die polizeilich-gerichtliche ‚Geständniskultur' einer Gesellschaft aus. Ziel des Forschungsprojektes ist es einmal, die tragenden Diskurse der deutschen gerichtlichen Geständniskultur in einem historischen Längsschnitt zu untersuchen. Zum anderen geht es darum, mittels dreier empirisch gesättigter ‚Tiefenbohrungen' die Praxis dieser polizeilich-gerichtlichen Geständniskultur zu drei bedeutsamen Zeitpunkten (a. 1780 bis 1820; b. 1877 bis 1900 und c. 1980 bis 2000) an Fallbeispielen und Begleituntersuchungen (Interviews) zu ermitteln.

Dabei müssen aus Sicht des Projektes zwei Gruppen von sozialen Motivationen zum Ablegen eines Geständnisses auseinander gehalten werden: die 'rationalen Gründe' und die 'gesellschaftlich-kulturellen Gründe':

Mit 'rationalen Gründen' sind all jene Veranlassungen zusammengefasst, die den Beschuldigten aufgrund eines Kosten-Nutzen-Kalküls dazu bewegen, einen Tatvorwurf einzuräumen. Das Geständnis zielt dann z.B. darauf ab, sich entweder Strafminderung bzw. Straffreiheit (z.B. durch die Kronzeugenregelung) oder eine Reduzierung der Anklage (durch in Deutschland informelle - dem amerikanischen plea bargaining analoge - Vereinbarungen; vgl. schon Schumann 1977, Dencker/ Hamm 1988, Gutterer 1995)‚ zu 'erkaufen' oder aber nur eine weitere Verschlechterung der Situation zu vermeiden.

Die ‚gesellschaftlich/kulturellen Gründe' fassen alle Arten von Reden über Notwendigkeit, Sinn, Psychologie und Nutzen des Geständnisses zusammen. Sie lassen sich als kulturelle Patterns oder als Diskurse soziokulturellen Ursprungs beschreiben. Es ist ein "Wissen", das sich in einer langen Geschichte aufgebaut und trivialisiert hat. Dieses "Wissen" wird inzwischen getragen von Alltagstheorien. Sein Ursprung ist religiös-institutionell, es wurde später kulturell umgeformt und verallgemeinert. Seine Autorität bezieht es allerdings aus der anthropologischen Verallgemeinerung, die besagt, dass das Geständnis eine menschliche und universelle Sache sei.

Die rationalen und die gesellschaftlich/kulturellen Beweggründe schließen sich keineswegs gegenseitig aus, sie bedingen sich auch gegenseitig. Die gesellschaftlich-kulturell vermittelten Beweggründe können bisweilen nur dann die Schleusen des Gestehens öffnen, wenn sie durch ein Kosten-Nutzen-Kalkül gestärkt werden, das die Nachteile der Geständnisfolgen kompensiert. Und umgekehrt gibt gerade die vom Projekt avisierte Ebene der Fremd- und Selbstdeutungen der Beteiligten zu erkennen, dass die rationalen Beweggründe nicht unvermischt auftreten, sondern stets mit gesellschaftlich-kulturellem Wissen, mit Norm- und Normalitätsvorstellungen legiert sind (und umgekehrt).

In diesem Forschungsprojekt soll also einerseits das Geständniswissen - die Theorien, Meinungen, Allgemeinplätze, das Repertoire der Motivationen, ihrer verschiedenen Ausdrucksweisen und ihrer Transformationen - analysiert werden. Auf der anderen Seite will die Untersuchung im einzelnen, nämlich an einer aussagekräftigen Menge von Fall-Dokumenten herausfinden, in welcher Form von diesen Motivationsdiskursen Gebrauch gemacht wird und wie sie in konkreten Vernehmungssituationen Handlungen auslösen. Damit sind zwei methodisch unterschiedliche, aber einander ergänzende, sich wechselseitig ermöglichende Untersuchungen vorgesehen: Einmal geht es um die Praxis der Vernehmung bzw. um die innerhalb dieser Praxis beobachtbaren und einer wissenssoziologisch-hermeneutischen Analyse zugänglichen Deutungen; und zum anderen um die gesellschaftlichen Diskurse, die diese Praxis hervorbringen und tragen. Dennoch ergibt sich hier kein simples Theorie-Praxis-Verhältnis. Zwar handelt der Vernehmende stets am Leitfaden von Anweisungen und Regeln. Und auch der Vernommene weiß zumeist, dass sein Gegenüber ihn zum Eingeständnis der Tat bewegen will. Aber die Besonderheit der Geständniskultur und der ihr aufruhenden Praxis liegt darin, dass hier ein von beiden Parteien geteiltes, kulturell tief gegründetes Überzeugungswissen im Spiel ist. Das Geständnis ist ein Beweis und zugleich ein psychologisch-anthropologischer Mythos unserer Kultur und Gesellschaft. Wie ist es um seine Wirksamkeit bestellt?

Da es hier also um die Ermittlung und Vermessung der ‚normativen Basis' unserer Gesellschaft geht, auf die sich sowohl Beschuldigte als auch Vernehmer zugleich beziehen (können), liefert die beantragte Studie zugleich einen (wenn auch kleinen) Beitrag zur Debatte über die Frage, was die (spätmoderne und multikulturelle) Gesellschaft zusammenhält bzw. was sie auseinander treibt (vgl. Heitmeyer 1997). Gibt es noch ein gemeinsames Repertoire an Geständniswissen? Weil dies nur in einer historischen Perspektive einzulösen ist, untersucht das Projekt, wie sich die über Selbst- und Fremddeutungen rekonstruierbaren und analysierbaren sozial/kulturellen Geständnismotive und Motivierungspraktiken unter wechselnden Verhältnissen, aber innerhalb gleicher kultureller Rahmenbedingungen im Zuge der letzten zweihundert Jahre entwickelt haben. Dieser auf den ersten Blick sehr lange Untersuchungszeitraum wird unter der Voraussetzung gewählt, dass sich solche grundlegenden Einstellungen wie z. B. der Glaube an die Geständnis-Katharsis nur sehr langsam wandeln. Die Trivialliteratur, aber auch das Kino belegen diese zähe Wirksamkeit. Der lange Untersuchungszeitraum zieht sich auch dadurch zusammen, dass ziemlich genau im Abstand von jeweils 100 Jahren die Materialerhebungen erfolgen. Die Wahl dieser Zeitpunkte ist dadurch begründet, dass in diesen Abständen jeweils ein mögliches Druckmittel der polizeilich-gerichtlichen Untersuchung abgebaut worden ist: um 1780 wird die Folter abgeschafft; seit 1877 räumt die StPO das Recht auf Aussageverweigerung ein; in neuester Zeit muss nach § 136, Abs.1 StPO der Beschuldigte auf sein Recht hingewiesen werden, die Äusserung zur Beschuldigung oder zur Sache zu verweigern. Exakt diese signifikanten Phasen nach Änderung der Vernehmungsregeln sind die gewählten Zeiträume, wo gezielt Akten zur Durchsicht auf geeignete Fälle (zur "Eignung" weiter unten) erhoben werden sollen. Denn es sind im Sinne der Diskursanalyse jeweils andere Regulierungen des Sprechens im Spiel: Zur Erreichung eines Geständnisses muss von Seiten des vernehmenden Beamten jedes Mal mehr kommunikativer Aufwand betrieben werden.

Das Forschungsprojekt verzahnt dabei zwei hermeneutisch operierende Analyseverfahren, deren Arbeitsweisen und Perspektiven in dieser Untersuchung einander gut ergänzen - nämlich die hermeneutische Wissenssoziologie, die mittels detaillierter Textanalyse die Sprech- und Verhaltensweisen von Beteiligten in tatsächlichen Strafverfahren freilegt, und die Diskursanalyse, die ebenfalls mittels Textanalysen das diskursive System des polizeilich-gerichtlichen Geständnisses in seiner Gleichförmigkeit und in seinen Varianten rekonstruiert.

(1) Dabei liegt das Schwergewicht des Interesses der wissenssoziologischen Analysen vor allem auf der Ermittlung der in der Situation der Vernehmung bei den Beteiligten erkennbaren Motivierungspraktiken und der Beweggründe zum Schuldgeständnis. Und das Schwergewicht der Textanalysen liegt auf der Auswertung von Fallakten und Experteninterviews mit Kriminalpolizisten, Juristen und geständigen Beschuldigten sowie der Auswertung des kriminologischen und kriminalistischen Diskurses über Geständnismotivationen und über die dazu ‚passenden' Motivierungspraktiken (vgl. Reichertz 1991, Reichertz/Schröer 1996, Schröer 1992).

(2) Von der diskursanalytischen und diskurshistorischen Seite her liegt das Schwergewicht des Interesses auf der Rekonstruktion der historischen Entwicklung der Motivierungspraktiken und des sie begründenden Wissens seit etwa 1780 (vgl. Schneider 1994). Die Diskursanalyse interessiert sich für systemförmige Ordnungen sowie für alle Arten von Verhaltensmodifikationen, die von veränderten Regulierungen ausgehen. Wie haben Folterverbot, Aussageverweigerungsrecht, Belehrung über dieses Recht das Sprechen und Handeln in Vernehmungssituationen beeinflusst? So liegt das Schwergewicht der Analyse auf den Diskursen über das Geständnis in der juristischen und kriminalpsychologischen Fachliteratur, in (mehr oder weniger literarisch bearbeiteten) Falldarstellungen und in Selbstdarstellungen geständiger Verbrecher.

Um die Vergleichbarkeit der an drei verschiedenen historischen Phasen erhobenen Daten zu sichern, werden zum einen ausschließlich textbasierte Daten analysiert (Fall- und Prozessakten, Biographien, Interviews) und zum anderen nur vergleichbare Klassen von Fällen untersucht, wobei die Vergleichbarkeit jedoch nicht über die Tat (Raub, Mord etc.) gesichert werden soll, sondern über folgende zwei Indikatoren: (a) das Geständnis konnte erst aufgrund eines längeren Vernehmungsprozesses herbeigeführt werden und (b) das Geständnis hatte für den Beschuldigten schwerwiegende Folgen.

Ziel des Projektes ist es somit, mittels dreier empirisch gesättigter ‚Tiefenbohrungen' die zu drei Zeiträumen geltenden Selbst- und Fremddeutungen von Geständnismotivationen zu ermitteln. Dabei sollen nur die relevanten Deutungen von sozial-kulturell vermittelten Geständnismotivationen rekonstruiert werden, von denen begründet angenommen werden kann, das sie in dem untersuchten Zeitraum zu dem gemeinsamen Repertoire an Geständnismotivationen gehörten.

Es steht zu erwarten, dass die Kombination des wissenssoziologischen Ansatzes mit der diskurshistorisch-kulturwissenschaftlichen Perspektive auch (ein wenig) zu der Klärung der Fragen beiträgt, ob sich (a) der kulturelle Stellenwert des Geständnisses gegenwärtig verändert oder verschiebt (ob Beschuldigte z.B. zunehmend aus rationalen Gründen gestehen oder zu gestehen meinen und weniger aus gesellschaftlich-kulturellen Gründen), und ob (b) der kulturelle Stellenwert des Geständnisses, wie er über verschiedenste kulturelle Medien vermittelt wird, seiner pragmatischen Bedeutung innerhalb polizeilicher Ermittlungsverfahren noch entspricht.

3. Untersuchungsdaten

3.1. Daten zur Selbst- und Fremddeutung von Geständnismotiven in konkreten Fällen

Die Untersuchung der Selbst- und Fremddeutungen von Praktiken, mit denen Verhörte in gerichtlichen und polizeilichen Untersuchungen zum Geständnis motiviert werden sollen, sieht sich bezüglich des fallspezifischen Analysematerials besonderen Schwierigkeiten ausgesetzt. Zum einen können die offiziellen Vernehmungs- bzw. Verhörprotokolle (vor allem seit der Abschaffung des Inquisitionsprozesses Mitte des 19. Jahrhunderts) den jeweiligen Verlauf immer nur unzureichend wiedergeben. Sie halten im wesentlichen nur das erzielte Resultat fest (vgl. dazu etwa Hellwig 1951, 27). Zum anderen enthalten sie in der Regel nicht die für die Rekonstruktion der Selbst- und Fremddeutungen zentralen Einschätzungen der Beteiligten. Sie lassen daher meist nur indirekte Rückschlüsse auf die typischen Formen der Geständnismotivierung zu. Das Projekt wird daher nach Möglichkeit weiteres Analysematerial erheben, in dem die Vorgänge des Verhörs bzw. der Vernehmung von einem oder sogar beiden Beteiligten ihrerseits interpretiert wird. Dies kann für die Gegenwart durch Experteninterviews geschehen, für die historischen Fälle sollen vor allem die Äußerungen innerhalb der Prozessakten (Verteidigungsschriften, Gutachten, Urteilsbegründung), sowie - falls verfügbar - Falldarstellungen mit Selbstaussagen der Beteiligten ausgewertet werden.

Um die Materialmengen überschaubar zu halten, beschränkt sich das Projekt auf drei ‚Tiefenbohrungen', die besonders geeignet sind, die Verschiebungen zu dokumentieren:

(1) Die Zeit nach Abschaffung der Tortur (1780-1820). In dieser Zeit werden die Verhöre mit dem Beschuldigten (bzw. Inquisiten) noch grundsätzlich von Untersuchungsrichtern geführt, sind jedoch den polizeilichen Vernehmungen funktional äquivalent. Es gibt zwar keine peinliche Frage mehr, wohl aber wird mit Ungehorsamsstrafen gedroht. Ein Schweigerecht des Beschuldigten besteht nicht. Zur Herstellung einer Geständnisbereitschaft werden Verhöre die vor allem wiederholt (vgl. Bruns 1994, Schmoeckel 2000).

(2) Der Zeitraum nach 1877 - dem Jahr des Inkrafttretens der Reichsstrafprozessordnung - bis etwa 1900. Nach einer längeren Übergangszeit werden die Vernehmungen mit Beschuldigten im Ermittlungsverfahren nunmehr von Polizeibeamten durchgeführt. Das Schweigerrecht des Beschuldigten ist gesetzlich verankert. Damit ist im Prinzip schon derselbe rechtliche Rahmen gegeben, der - ausgenommen die Zeit zwischen 1933 bis 1945 - auch nach dem zweiten Weltkrieg Gültigkeit hat (vgl. etwa Meinert 1956).

(3) Die gegenwärtige Situation (seit 1980). Sie ist vor allem durch die Belehrungspflicht bei der polizeilichen Vernehmung des Beschuldigten gekennzeichnet. Damit ist endgültig eine Vernehmungssituation erreicht, bei der alles auf informelle Mittel zur Geständnismotivierung ankommt, während umgekehrt Begriff des Geständnisses rechtlich gesehen sein Stellung einbüßt (vgl. etwa Neuhaus 1995; zum weiteren Problemkontext Ransiek 1990, Salger 1998, Bosch 1998).

Die drei zur Tiefenbohrung gewählten Zeiträume decken also die möglichen rechtlichen Rahmenbedingungen zur Geständnismotivierung nach Abschaffung der Folter erschöpfend ab. Darüber hinaus kann das Projekt für zwei dieser drei Zeiträume auf bereits erhobene Daten zurückgreifen:

(1) Für den Zeitraum zwischen 1780 und 1800 stehen insgesamt 13 (im Rahmen eines von der DFG geförderten Forschungsprojektes gesammelte) Prozessakten aus verschiedenen Archiven (Leipzig, Marburg, Frankfurt am Main) zur Verfügung - teilweise auf Mikrofilm, teilweise bereits in transkribierter Form.

(2) Für die Gegenwart kann das Projekt auf eine Reihe von Daten zurückgreifen, die bereits im Rahmen anderer (zum Teil von der VW-Stiftung geförderter) Forschungsprojekte gesammelt worden sind (vgl. Reichertz 1984, Reichertz 1991 und 1998; Reichertz/Schröer 1992, Schröer 1997). Zu insgesamt 56 polizeilichen Vernehmungen liegen (bereits anonymisierte) Kopien der Polizei-Akten vor. Weiterhin befinden sich im erhobenen Datenbestand 18 mit Polizisten und Polizistinnen aus unterschiedlichen Sachgebieten (Diebstahl, Tötung, Kindesmissbrauch, illegaler Aufenthalt) geführte Experteninterviews, deren Fokus die Frage ist: "Wie können jugendliche und erwachsene Beschuldigte so vernommen werden, dass sie gestehen?"

Die bereits vorliegenden (aus anderen Forschungsprojekten stammenden) Daten sind für das Projekt einerseits sehr gut geeignet: Bei den Vernehmungs- bzw. Verhörprotokollen handelt sich im Hinblick auf die Ermittlung der Selbst- und Fremddeutungen von Geständnismotivationen um ‚natürliche Daten', die miteinander vergleichbar sind. Andererseits wurden sie in anderen Forschungskontexten erhoben. Deshalb sind sie nicht immer spezifisch genug für die Beantwortung der Projektfragestellung. Interviews mit geständigen Beschuldigten fehlen gänzlich im Datenbestand. Darüber hinaus ist die vorliegende Materialbasis lückenhaft und viel zu schmal. Deshalb müssen sowohl für die Rekonstruktion der gegenwärtigen als auch die der vergangenen Selbst- und Fremddeutungen von Geständnismotiven für das beantragte Projekt weitere Daten erhoben werden, um eine Fokussierung auf die Fragestellung der Geständnismotivierung zu erreichen.

(1) Die Daten des Zeitraums zwischen 1780 und 1820 bedürfen der Ergänzung durch einen weiteren Archivbesuch. Aufgrund der guten überlieferungslage wurde hierfür das Stadtarchiv Konstanz ausgewählt (vgl. dazu Kühne 1979). Darüber hinaus sollen auch veröffentlichte Verhörprotokolle und Falldarstellungen ausgewertet werden (vgl. etwa Pfister 1814-1820), die - den Experteninterviews vergleichbare - äußerungen zur Geständnismotivierung enthalten.

(2) Für die polizeilichen Vernehmungsakten des Zeitraums zwischen 1877 und 1900 wurde das Hauptstaatsarchiv Düsseldorf ausgewählt, in dem die Akten verschiedener Polzeipräsidien des Landes verwahrt werden und das für die Standorte des Forschungsprojektes günstig gelegen ist. Im übrigen sollen auch hier veröffentlichte Verhörprotokolle und Falldarstellungen dem Datenmaterial hinzugefügt werden.

(3) Für die gegenwärtige Situation seit 1980 soll erstens der vorliegende Bestand an Fallakten systematisch erweitert werden. Zweitens sollen Interviews mit polizeilichen Vernehmungsexperten und geständigen Beschuldigten geführt bzw. entsprechende Dokumente in den vorhandenen Archiven zu erhoben werden.

3.2. Datenerhebung zu Diskursen über Motivierung und Motivation zum Geständnis

Konkrete Geständnisakte können nicht losgelöst von Diskursen über das Geständnis analysiert und verstanden werden. Schon die von den Beteiligten vorgenommenen Selbst- und Fremddeutungen gehören letztlich einem solchen Diskurs an. In den fallbezogenen Reden über Geständnismotivierung in Experteninterviews oder Falldarstellungen werden die kulturellen Patterns oder diskursiven Strukturen aktiviert, die von der Verankerung des Geständnisaktes in unserer Kultur Zeugnis ablegen. Man findet sie nicht nur in den alten und neuen Falldarstellungen, sondern auch in den Anweisungen der Lehrbücher zu Vernehmungstechnik und Vernehmungstaktik (Meinert 1956, Geerds 1976, Gundlach 1984, Fischer 1985 u.v.a.), in den Darstellungen der Kriminalpsychologie, die Ende des 18. Jahrhundert auftauchen (vgl. etwa Schaumann 1792, Snell 1819), und der Vernehmungspsychologie im engeren Sinne (z.B. Hellwig 1951, Graßberger 1950). Daneben gibt es zahlreiche Einzeluntersuchungen und Monographien zum Geständnis (vgl. nur Tittmann 1810, Heinzerling 1843, Lohsing 1905, Burchard 1913, Reik 1925, Schönmüller 1937, Hentig 1957). Die Auswertung dieser stets mit Fallbeispielen gesättigten Literatur wird einen wichtigen Bestandteil des Projektes bilden. Bei diesem Schrifttum lassen sich zwei für die Problemstellung des Projektes relevante Fragerichtungen unterscheiden:

(1) Pragmatisch gesehen geht es um eine Rekonstruktion des Problemhorizontes, in dem sich seit dem Ende der Tortur die Frage nach der Geständnismotivierung situiert: die Abgrenzung erlaubter von unerlaubten Methoden der Geständnismotivierung. Besondere Aufmerksamkeit verdient unter diesem Gesichtspunkt das gespannte Verhältnis zwischen den gesetzlichen Bestimmungen (vor allem §136a StPO) und der inquisitorischen bzw. polizeilichen Praxis, die die gesetzlichen Normierungen tendenziell stets als "zweckwidrige Beschränkungen ihrer freien Thätigkeit" (Puchta 1821) auffasst. Bei der Beurteilung der Frage, ob der auf den Vernommenen ausgeübte ‚Druck' den Verfahrensvorschriften zuwiderläuft oder nicht, wird es in erster Linie nicht um dessen bloße ‚Stärke' gehen, sondern vor allem darum, in welcher Weise sich die Geständnismotivierung auf kulturelle Norm- und Normalitätsvorstellungen bezieht und wie sie von ihnen gedeckt ist.(3)

(2) Von der theoretischen Seite her gilt die Beschäftigung den Dispositionen, die das Subjekt unabhängig von den Bemühungen innerhalb der konkreten Verhörsituation zum Ablegen eines Geständnisses motivieren können. Die Diskurse über das Geständnis bedienen sich dabei zumeist der Sprache der Psychologie (vgl. etwa Lohsing 1905 oder Burchard 1913). Die diskursanalytische Untersuchung der Texte muss die diskursiven Strukturen freilegen, die den psychologisierenden Fallbeispielen und den Klassifikationenversuchen möglicher Geständnismotive zugrundeliegen. Gerade in diesem Punkt ermöglicht die historische Dimension des Projektes eine Freilegung der kulturellen Patterns hinter den scheinbar individualpsychologischer Dispositionen. Das gleiche gilt für die im psychoanalytischen und philosophischen Schrifttum verstreuten überlegungen zu einem "Wahrheitstrieb" (Snell 1819) oder einem "Geständniszwang" (Reik 1925), die in das Untersuchungsmaterial einzubeziehen sind (vgl. dazu auch Niehaus 2000). Solche anthropologischen Postulate müssen einerseits hinsichtlich ihrer praktischen Konsequenzen für die Theorie der Motivierung analysiert werden und sind andererseits unverzichtbar für die Rekonstruktion des Stellenwertes des Geständnisaktes in unserer Kultur (vgl. Foucault 1977). Sie geben damit Aufschluss im Hinblick auf eine der leitenden Fragen des Forschungsprojektes: Die Frage nach der Entwicklung des Verhältnisses zwischen den soziokulturellen Geständniskonzepten und der Pragmatik der Geständnismotivierung im Rahmen polizeilicher Ermittlungsverfahren.

Diese beiden Fragerichtungen sind schon deshalb eng miteinander verwoben, weil die Theorie möglicher Beweggründe zum Geständnis immer schon ein Wissen bereitstellt, das für die Pragmatik der Geständnismotivierung genutzt werden kann. Im Hinblick auf die Fragen der Verschränkung von Geständnismotiv und -motivierung sollen auch literarische Darstellungen des Gestehens ergänzend in das Untersuchungsmaterial einbezogen werden. Denn es ist nicht zuletzt die Literatur (und dann der Film und das Fernsehen), die den Akt des Gestehens, indem sie ihn in ihrer Ereignishaftigkeit darstellt, zum Modell verdichtet.

4. Methodischer Ansatz des Projektes

Der Interdisziplinarität des in diesem Projekt vorgetragenen Forschungsansatzes wird auch in dem methodischen Vorgehen Rechnung getragen. Es beruht auf der Kombinierbarkeit zweier Analyseverfahren, die beide - wenn auch in verschiedener Weise - als hermeneutisch angesprochen werden können: nämlich einmal die hermeneutische Wissenssoziologie (Soeffner 1989; Hitzler&Reichertz&Schröer 1999) und zum zweiten die Diskursanalyse (wie sie sich im Anschluss an Foucault entwickelt hat). Die hermeneutische Wissenssoziologie und die Diskursanalyse lassen sich im Rahmen der Projektfragestellung methodologisch als zwei Analyseverfahren verstehen, die sich ergänzen, weil sie denselben Gegenstand aus zwei verschiedenen Blickrichtungen erfassen.

(1) Der Begriff ‚hermeneutische Wissenssoziologie' bezeichnet ein komplexes theoretisches, methodologisches und methodisches Konzept, das sich im wesentlichen durch die Kritik an der ‚Metaphysik der Strukturen' der objektiven Hermeneutik und durch die Auseinandersetzung mit der sozialphänomenologischen Forschungstradition (Schütz, Luckmann) herausgebildet hat.

Dieses Verfahren untersucht, (diesseits von Konstruktivismus und Realismus) die Großfragestellung, wie Handlungssubjekte - hineingestellt und sozialisiert in historisch und sozial entwickelte Typen von Routinen und Deutungen des jeweiligen Handlungsfeldes - diese Typisierungen einerseits vorfinden und sich aneignen (müssen), andererseits diese immer wieder neu ausdeuten und damit auch ‚eigen-willig' erfinden (müssen). Die (nach den Relevanzen des Handlungssubjekts konstituierten) Neuauslegungen des gesellschaftlich vorausgelegten, somit typisierten Wissens werden ihrerseits (ebenfalls als Wissen) in das gesellschaftliche Handlungsfeld wieder eingespeist (vgl. Berger/Luckmann 1994 und Soeffner 1989). Das Handeln von Akteuren gilt erst dann als verstanden, wenn der Interpret in der Lage ist, dieses Handeln in Bezug zu dem vorgegebenen und für den jeweiligen Handlungstypus relevanten Bezugsrahmen zu setzen und es in dieser Weise für diese Situation als eine (für die Akteure) sinn-machende (also nicht unbedingt gültige!) ‚Lösung' eines Handlungsproblems nachzuzeichnen. Folglich geht es bei der Rekonstruktion des Handelns um die Sichtbarmachung der (als Wissen abgelagerten) typischen Handlungsprobleme und typischen Handlungsmöglichkeiten, die bei der Herausbildung der ‚egologischen Perspektive' dem Protagonisten mit guten Gründen zugeschrieben werden können (vgl. Reichertz 1991). Damit ist allerdings weder die Rekonstruktion der von den jeweiligen Individuen gewussten singulären Perspektive gemeint noch die Ermittlung der psychischen Besonderheit der Akteure.

(2) Diese wissenssoziologische Ebene der Analyse verbindet sich mit einem diskursanalytischen Vorgehen im Sinne Michel Foucaults, wie es in Deutschland nicht zuletzt von der Literaturwissenschaft und der Soziologie aufgenommen und auch in vielen neueren kulturwissenschaftlich ausgerichteten interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar gemacht worden ist (vgl. etwa Bublitz et al. 1999). Das Geständnis muss im Sinne Foucaults als eine disziplinübergreifende diskursive Praxis aufgefasst werden (vgl. Foucault 1977), die sich an der Nahtstelle zwischen der juridischen Ordnung und den Machtwirkungen einer normalisierenden Disziplinargesellschaft befindet (vgl. etwa Friedrich/ Niehaus 1999).

Methodischer Ausgangs- und Einsatzpunkt ist daher, dass sich die diskursive Praxis des Gestehens nur angemessen beschreiben lässt, wenn auch die Diskurse untersucht werden, die diese Praxis thematisiert haben. Das Geständnis besitzt eine diskursive Positivität unabhängig von den konkreten, tatsächlich vollzogenen Geständnisakten. Nur wenn man nachzuzeichnen versucht, in welcher Weise sich diese diskursive Positivität historisch formiert hat, kann man den Stellenwert des Geständnisses für unsere Kultur verstehen. Mehr als die tatsächlichen Akte des Gestehens arbeiten die Diskurse über das Geständnis auf verschiedenen Ebenen mit an einer Festlegung dessen, was das Geständnis in unserer Kultur ist, wie es funktioniert und was es besagt (vgl. zu den methodologischen Grundfragen Foucault 1973). Dies erschließt sich nur einer Beschreibungsperspektive, die - mit einem literaturwissenschaftlichem Instrumentarium gerüstet - den Status von äußerungen innerhalb des Ensembles von Diskursen beschreibt, die sich zu anderen Typen von äußerungen in Beziehung setzen lassen.

Von hier aus lässt sich das Ergänzungsverhältnis der beiden Analyseverfahren im Hinblick auf das Geständnis näher bestimmen: Während die hermeneutische Wissenssoziologie die Sinn-Struktur rekonstruiert, und ausgehend von der Frage, welchen intersubjektiven Sinn es macht, dass die Akteure so handeln wie sie handeln, den jeweiligen Bezugsrahmen thematisiert, nimmt die Diskursanalyse individuelles Verhalten ausgehend von den durch die diskursiven Strukturen gegebenen Bezugsrahmen in den Blick. In der hermeneutischen Wissenssoziologie kann dieser Bezugsrahmen nicht mehr als Resultat historischer Prozesse analysiert werden. Innerhalb des diskursanalytischen Vorgehens bleibt die in der Sinn-Struktur gegebene ‚egologische Perspektive' ausgeblendet. Ein Ergänzungsverhältnis ergibt sich dabei nicht zuletzt deshalb, weil sich die Diskursanalyse auch für Position des Subjekts innerhalb der diskursiven Strukturen interessiert, und weil sich die hermeneutische Wissenssoziologie nicht auf Rekonstruktion der bewussten subjektiven Perspektive beschränkt. Von daher ist sowohl die Verbindung wie auch die Ergänzung beider Verfahren im Forschungsprozess beabsichtigt.

Erst die Verknüpfung eines soziologischen und eines diskurshistorischen Ansatzes vermag darüberhinaus Einblicke zu geben in das Spannungsverhältnis zwischen der tatsächlichen Geständnispraxis und den Diskursen über das Geständnis. Dieses Spannungsverhältnis ist in verschiedener Hinsicht in den Bick zu nehmen.

Einerseits lässt sich eine ‚gezielte' oder forcierte Geständnismotivierung, also ein Drängen zum Geständnis, nicht rechtspolitisch vertreten, da es nicht der Rechtsnorm des Legalitätsprinzips entspricht. Entsprechend besitzt das in einer polizeilichen Vernehmung abgelegte Geständnis für die deutsche Strafprozessordnung keinen so hohen Stellenwert mehr. Es hat - vor allem aufgund der freien richterlichen Beweiswürdigung, die auch ohne Geständnis zu einer Verurteilung kommen kann - seinen privilegierten Ort im Rechtssystem, nicht aber im Symbolischen und im Pragmatischen unserer Kultur eingebüßt. Obwohl für eine rechtskräftige Verurteilung kein Geständnis erforderlich ist, ‚müssen' alle Kriminalfilme mit dem Geständnis (oder einem Geständnisäquivalent) des Täters enden, werden alle polizeilichen Vernehmungen als unbefriedigend empfunden, die nicht mit dem Geständnis des mutmaßlichen Täters enden. Das Geständnis lässt sich nicht ‚abschaffen'. Es ist integraler Bestandteil der abendländischen Kultur, aber es hat seine verbindliche Form verloren, weil es vom normierenden juristischen Diskurs nicht mehr angemessen erfasst wird. Das legitimiert bei diesem Untersuchungsgegenstand in besonderer Weise die vom Projekt beabsichtigte methodische Verknüpfung, die einerseits - als hermeneutische Wissenssoziologie - die tatsächlichen Geständnisproduktionen anstelle der juristischen Normierung aufsucht und andererseits - als diskurshistorisches Projekt - den normierenden juristischen Diskurs als Element eines diskursiven Ensembles analysiert.

Schließlich ermöglicht die besondere methodische Ausrichtung des Forschungsprojektes die Einsicht in das vermutete Spannungsverhältnis zwischen der tatsächlichen Geständnispraxis im Ermittlungsverfahren und den Diskursen über das Geständnis bezüglich der kulturellen Beweggründe, die für eine Geständnismotivierung mobilisiert werden können. Das beantragte Projekt geht in dieser Hinsicht von der Arbeitshypothese aus, dass sich die Pragmatik der Geständnismotivierung und der kulturelle Status unseres Geständnisses seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auseinanderentwickelt haben und dass die auf die Gruppe der rationalen Gründe referierenden Motivierungsstrategien in der Pragmatik stärker in den Vordergrund gerückt sind als es dem Geständnisdispositiv unserer Kultur entspricht.

4.1. Dateninterpretation und Validierung

Die hermeneutische Wissenssoziologie wie auch die Diskursanalyse sind grundsätzlich dazu in der Lage, über sämtliche diskursiven bzw. textuellen Datensorten Aussagen zu machen. Daher beabsichtigt das Forschungsprojekt, sämtliche Daten sowohl mit dem Instrumentarium der hermeneutischen Wissenssoziologie wie auch mit dem der Diskursanalyse zu befragen. Gleichwohl ergibt sich aus den verschiedenen methodischen Ausrichtungen und dem unterschiedlichen Erkenntnisinteresse eine differenzierte Gewichtung der beiden Analyseverfahren, die in einem Ergänzungsverhältnis zueinander stehen:

(1) Je stärker der fallbezogene interaktionelle Charakter der Daten ausgebildet ist (wie vor allem in den Vernehmungsprotokollen), desto näher liegt ihre Interpretation mit Mitteln der hermeneutischen Wissenssoziologie, die die Mikropolitik der Beteiligten zu rekonstruieren sucht. Hier liefert daher die wissenssoziologische Interpretengruppe die Vorgabe. Die anschließende Lektüre der diskursanalytischen Interpretengruppe konzentriert sich auf jene Momente des Materials, in denen die herausgearbeiteten Selbst- und Frenddeutungen zu makrostrukturellen diskursiven Formationen in Beziehung gesetzt werden können.

(2) In dem Maße, wie die Daten ihren fallbezogenen interaktionellen Charakter einbüßen, tritt die Diskursanalyse in den Vordergrund. Die verschiedenen Reden über Geständnisse lassen sich angemessen über die Analyse makrostruktureller diskursiver Formationen beschreiben. Die diskursanalytische Vorgabe wird von der wissenssoziologischen Interpretengruppe vor allem daraufhin analysiert, wie sich das Verhältnis zwischen den soziokulturellen Geständniskonzepten und der Pragmatik der Geständnismotivierung im Rahmen polizeilicher bzw. untersuchungsrichterlicher Ermittlungsverfahren entwickelt.

(3) Bei der Analyse der die aktuelle Situation betreffenden Daten zur Geständnismotivierung kommt in erster Linie die wissenssoziologische Analyse zum Einsatz, sobald die pragmatische Dimension thematisch wird. Die sich anschließende diskursanalytische Interpretation des aktuellen Datenmaterials bezieht sich eher auf die zugrundeliegenden theoretischen Modelle.

(4) Je mehr die historische Dimension der Daten in den Vordergrund rückt, umso mehr drängt sich ihre Lektüre mit den Mitteln der diskurshistorischen Analyseformen auf. Hier liefert die Diskursanalyse die Vorgabe bzw. den Rahmen, der dann von der wissenssoziologischen Interpretation vor allem im Hinblick auf die Problematisierung des Verhältnisses von makrostrukturellem Rahmen und tatsächlicher Verhör- bzw. Vernehmungspraxis ergänzt wird.

Die Kombination zweier bewährter Datenanalyseverfahren dient also methodisch zum einen der Generierung, Differenzierung und Präzisierung von Lesarten, in einem zweiten Schritt aber auch zu deren überprüfung (Validierung am Text). Einmal gefundene Lesarten werden anhand des Datenmaterials sequenzanalytisch auf Stimmigkeit überprüft. Thematisch geht es dabei stets darum, die historisch übergreifenden Diskursformationen und die pragmatisch situativen Diskurstypen aufeinander zu beziehen und in ihrer Verschränktheit darzustellen.

Neben dieser Validierung am Text ist beabsichtigt und notwendig, dass eine weitere Validierung durch den wissenschaftlichen Diskurs (abgesehen von der regelmäßigen Beratung durch den Rechtswissenschaftler vor allem durch eine im Rahmen des Projektes geplante interdisziplinäre Tagung; vgl. dazu den Arbeitsplan unter 8.) herbeigeführt wird. Eine qualitativ verfahrende Datenanalyse, deren Validität sowohl durch den Datenbezug als auch durch konkurrierende Lesartenkonstruktionen gesichert werden soll, hat notwendigerweise zur Voraussetzung, dass mehrere ausgebildete Wissenschaftler das Material unabhängig von einander interpretieren. Die Sicherung der wissensschaftlichen Ressourcen, um eine solche Überprüfung von Lesarten, Hypothesen und theoretischen Verallgemeinerungen vorzunehmen, trägt dabei nicht unwesentlich zur Erhaltung selbstverständlicher Standards und wissenschaftlicher Anforderungen an die Validität der Untersuchungen bei.

5. Zum Stand der Forschung

Mit seiner schon im Ansatz interdisziplinär ausgerichteten Fragestellung betritt das Projekt - obwohl methodisch nach beiden Seiten abgesichert - Neuland. Aber auch für sich genommen liegen für beide Perspektivierungen bislang recht wenig Forschungsergebnisse vor.

5.1. Sozialwissenschaftlicher Forschungsstand

Im weiteren Sinne sozialwissenschaftliche - nur zum Teil empirische - Untersuchungen zur Vernehmungspraxis gibt es im deutschen Sprachraum vereinzelt seit den siebziger Jahren (vgl. Schütze 1975, Banscherus 1977, Schmitz 1978, Holly 1981). Die für die Vernehmungssituation entscheidende institutionelle Rahmung des kommunikativen Geschehens wurde dabei jedoch eher einseitig ins Spiel gebracht. Gerade für die Frage der Geständnismotivierung ist es jedoch notwendig, den kommunikativen Ablauf eines Verhörs als einen "Kampf um Dominanz" (Schröer 1992) aufzufassen (siehe hierzu auch Reichertz 1991, 1994 und 1996, Schwitalla 1996).

Der Zwangscharakter des von den staatlichen Institutionen durchgeführten Verhörs lässt sich - so die Prämisse des hier vorgestellten Projektes - nur als überlagerung von institutionellen Rechten (dem Recht auf Aussageverweigerung) und kommunikationsinternen Zwängen beschreiben (vgl. auch zu den eigenen Vorarbeiten unter 6.1.; von juristischer Seite dazu etwa Roschmann 1983, Ransiek 1990, Salger 1998). Eine explizite Anwendung dieser Problematik auf die Frage nach der Geständnismotivierung gibt es bislang nur im angelsächsischen Bereich (vgl. für empirische Untersuchungen vor allem Leo 1996 mit weiterer Literatur), in den USA vor allem ausgehend von der sogenannten Miranda-Entscheidung, durch die erst 1966 das Recht auf Aussageverweigerung in polizeilichen Verhören statuiert wurde. Zuvor (vgl. im einzelnen Ransiek 1990, 23ff) war unzulässiger Druck nur dann gegeben, wenn die Vernehmungsmethoden dazu geeignet erschienen, einen Unschuldigen zu einem falschen Geständnis zu bringen. In der Folgezeit drehte sich die Diskussion immer wieder um die Frage, ob die polizeilichen Vernehmungen in der Praxis den Richtlinien der Miranda-Entscheidung entsprachen. Der wissenschaftlichen Diskussion zum Geständnis war damit eine rein pragmatische Richtung vorgegeben - im Zentrum der Forschungen steht das durch Zwang erzeugte falsche Geständnis (vgl. nur Kassin 1997).

Bislang richtete sich die kommunikationswissenschaftliche Forschung vor allem auf die Motivierungsstrategien, welche auf die Erlangung und Beibehaltung der Gesprächsbereitschaft bei dem Vernommenen zielen (siehe auch unter 6.1). Vollkommen unbekannt sind allerdings die Strategien, welche die Vernehmungsbeamten einsetzen, um ein Geständnis bei dem Vernommenen 'hervorzulocken'. Das geplante Projekt wird versuchen, diese Strategien aufzuspüren.

5.2. Diskurshistorische Forschungen zum Geständnis

Bedeutsam für die Fragestellung des Projektes sind die überlegungen von Michel Foucault, der verschiedentlich die große Bedeutung des Geständnisses für unsere Kultur hervorgehoben hat (vgl. Foucault 1976, 1977, 1980). Foucault betont die Herkunft des Geständnisses aus der Sphäre des Rechts. Von seinem juridisch-religiösen Modell aus habe sich das Geständnis aber in die verschiedensten Bereiche ausgebreitet: "Im Abendland ist der Mensch ein Geständnistier geworden" (Foucault 1977, 77). Gerade diese Universalisierung des Geständnisses entfernt es jedoch von seiner Herkunft aus dem Strafrecht; statt dessen rückt der Bezug zur Beichte in den Vordergrund (vgl. etwa Delumeau 1990). Für die konkrete Frage nach Beweggründen und Motivierungen können die überlegungen Foucaults nur einen allgemeinen Problemhintergrund abgeben (vgl. Niehaus 2000). Zu weiterführenden diskurshistorischen oder diskurstheoretischen Untersuchungen zum Geständnis im Strafrecht haben sie bezeichnender Weise bislang auch nicht geführt. Im Bereich der Strafrechtsgeschichte gibt es zwar einige Untersuchungen zum Geständnis, die sich aber auf frühere Entwicklungen beschränken (vgl. etwa Inger 1976, Kleinheyer 1979), wie sich denn überhaupt die rechtsgeschichtliche Forschung zu Fragen des Strafprozessrechts auf das Spätmittelalter und die frühe Neuzeit konzentriert (vgl. etwa Trusen 1988, Jerouschek 1992).

Insofern das Forschungsprojekt in seiner diskurshistorischen Stoßrichtung die tatsächlichen Geständnismotivationen zu den Diskursen über das Geständnis in Beziehung setzt, steht es in Zusammenhang mit der Erforschung der "Austauschbeziehungen zwischen dem ‚Rechtssystem' und den ‚Kultursystemen'" (Schönert 1987, 213), für die neuere Untersuchungsansätze den Begriff einer sich ausgangs des 18. Jahrhunderts formierenden "Rechtskultur" (Schönert 1983, 31-34) geprägt haben. Im Zuge der Ausdifferenzierung des Rechtssystems ereignet sich eine "Verfachlichung des Strafrechts" (Naucke 1983, 55), eine "durchgreifende Formalisierung von Gesetzen und Prozeßordnungen" (Schönert 1983, 18), während die Gesellschaft gleichzeitig hiervon zunehmend abgekoppelte und von literarischen Darstellungsformen geprägte Typisierungen des Kriminellen und seiner Kriminalität entwickelte. Von hier aus wird die Problemstellung des beantragten Forschungsprojektes noch einmal deutlich: Gerade die Frage der Geständnismotivierung innerhalb eines Ermittlungsverfahrens zeigt, dass die Ausdifferenzierung des Rechtssystems nicht vollständig ist, sondern innerhalb des Verfahrens selbst wieder auf Typisierungen angewiesen ist, die aber innerhalb des Rechtssystems nicht diskursiv bearbeitet werden können.

6. Eigene Vorarbeiten

6.1. Sozialwissenschaftliche Forschungen zur Vernehmungspraxis

Von einem der Antragsteller liegen eine Reihe von Studien zur Untersuchung der polizeilichen Ermittlungspraxis im allgemeinen und zu den Strategien zur Erzeugung von Gesprächsbereitschaft im besonderen vor (vgl. Reichertz 1991, 1992, 1993, 1994, 1996, 1998). Im wesentlichen kommen diese Studien in Bezug auf Strategien polizeilicher Vernehmung zu folgenden Ergebnissen:

Herzstück einer jeden Überprüfung von Verdacht ist die Vernehmung des Beschuldigten. "Das Ziel der Vernehmung ist die Erforschung der Wahrheit." (Magulski 1982, 68) Gleiche oder sehr ähnliche Zielvorgaben finden sich - mal mit mehr, mal mit weniger Pathos vorgetragen - in fast allen Stilkunden (oder Benimm-Führern) zur Vernehmung.(4) So z.B. auch in den klassischen Anleitungen von Geerds 1976, Gössweiner-Saiko 1979, Meinert 1956, Bauer 1970 und Graßberger 1968. Soziologische Analysen von Vernehmungen finden sich z. B. in Banscherus 1977, Brusten/Malinowski 1975 u. 1983 und Schröer 1992.

Der Täter - so die Unterstellung - ist der einzige kompetente Zeuge, der im Besitz der Wahrheit ist. Die Vernehmung zielt darauf ab, dem Täter dieses Wissen zu entlocken oder (je nach Temperament auch) abzuringen. Jemanden zu vernehmen, ist deshalb nicht leicht.

"Genau genommen ist schon die erste kriminalpolizeiliche Vernehmung eine wissenschaftliche Arbeit und sollte auch als solche gewertet werden. Die Gedankenarbeit des Kriminalisten ist [...] ein logisches, an Erfahrungswerten und kriminalwissenschaftlichen Erkenntnissen ausgerichtetes kriminalistisch geschultes Denken. Die kriminalpolizeiliche Vernehmungsarbeit kommt ohne diese hochqualifizierte Gedankenarbeit gar nicht aus." (Gössweiner-Saiko 1979, 24)
Auf der Suche nach der Wahrheit trifft der Ermittler in der Vernehmungspraxis oft sehr früh auf eine nicht zu unterschätzende Schikane (im doppelten Sinne des Wortes): der Beschuldigte schweigt. Das Interesse des Ermittlers an der Wahrheit wird nicht unbedingt vom Beschuldigten geteilt, da die Gefahr besteht, dass der erste dem zweiten möglicherweise (beträchtlichen) Schaden zufügt.
"Eine zu vernehmende Person, die sich nicht äußern will, gleicht einer uneinnehmbaren Burg, die wieder und wieder verlustreich berannt wird. Allein die Kenntnis eines Grundrisses der Burg, der Schwachstellen der schweren Mauern, der geheimen Pforten vermöchte sie sturmreif zu machen." (ebd. 13)
Bevor die eigentliche gedankliche Arbeit des Vernehmens beginnen kann, muß also meist erst einmal eine interaktive Aufgabe erfolgreich abgeschlossen werden. Der Ermittler muß den Beschuldigten dazu bewegen, an der Vernehmung mitzuwirken, was letzteren aus der Perspektive der Gesprächsorganisation strukturell in eine stärkere Position versetzt (vgl. auch Schröer 1992).

Wie gelingt dem Ermittler, wenn (a) die Folter abgeschafft ist, (b) die Aussage verweigert werden darf und (c) der Beschuldigte ausdrücklich auf sein Aussageverweigerungsrecht aufmerksam gemacht (oder zumindest: hingewiesen) werden muß? Für den Fahnder ist eines klar: Ohne die Aussage des Beschuldigten gibt es weniger oder keine weiteren Ermittlungsansätze. Deshalb ist es für den Fortgang der Aufklärung von zentraler Bedeutung, ob man Aussagen erhält. Von daher wird verständlich, dass die Kompetenz eines Kriminalbeamten nicht unwesentlich danach beurteilt wird, ob es ihm gelingt, einen Beschuldigten zum Sprechen zu bringen. Gerade weil diese Fähigkeit bei den Kollegen und Vorgesetzten so viel ‚symbolisches Kapital' (Bourdieu) einbringt, gehen manche Ermittler, wenn es um den Hinweis auf das Recht zur Aussageverweigerung geht, bis an den äußersten Rand des durch gesetzliche Normen gesteckten Rahmens.

Da dieser Rahmen auch sehr dehnfähig ist, fällt das nicht allzu schwer. Im Prinzip ist etwa gesetzlich festgelegt, zu welchem Zeitpunkt die notwendige Belehrung zu erfolgen hat - nämlich zum Vernehmungsbeginn (vgl. § 136 I StPO). In bestimmten Situationen existieren jedoch Entscheidungsspielräume - z.B. bei den Fragen, ob überhaupt eine Vernehmung vorliegt oder ob der Vernommene noch Zeuge oder schon Beschuldigter ist.. Auch ist den Ermittlern bekannt, dass man den Beschuldigten nicht täuschen darf. Getäuscht wird der Beschuldigte aber erst, wenn man ihm vorspiegelt, er sei zur Aussage verpflichtet. Das Verschweigen von Rechten und Tatsachen ist dagegen keine Täuschung. Zudem hatte das Unterlassen der Rechtsbelehrung (bis Ende der 80er Jahre) weder für den Ermittler noch (oft) für das Verfahren gravierende Rechtsfolgen: Ohne Belehrung erlangte Aussagen sind oft gerichtsverwertbar (Vgl. Kleinknecht/Meyer 1985, S.450-465 und Löwe/Rosenberg 1978, S.19-63). Nach neuester Rechtssprechung führt eine fehlende Belehrung allerdings zu einem Verwertungsverbot der Aussagen des Vernommenen (vgl. Neuhaus 1995)

Die einzelnen Beamten wissen über ihre rechtlichen Begrenzungen und Möglichkeiten erstaunlich genau Bescheid. Und dieses Wissen setzen sie auch strategisch ein, z.B. um einen Zeugen zum Sprechen zu bringen. Allerdings haben sie dieses Wissen nur selten in Form von Wissen um Gesetze parat, sondern es handelt sich um Fallwissen. Die Herstellung von Aussagebereitschaft ist also ein zentraler Punkt der Ermittlungsarbeit. Die beschriebene Sanktionspraxis wirkt darauf hin, dass auch weiterhin dieser strategisch entscheidende Anknüpfungspunkt für jede Ermittlungsarbeit erhalten bleibt.

Aber die Herstellung der Aussagebereitschaft ist erst einmal nur der Einstieg in die Vernehmung. Sie muß stets in Gang gehalten bleiben (vgl. Schwitalla 1996). Damit die einmal erreichte Kooperationsbereitschaft in Geltung bleibt, setzen die Ermittler je nach Einschätzung von Person und Situation zwei bekannte Strategien ein: entweder nehmen sie dem Beschuldigten gegenüber die väterliche und dominante oder die freundschaftliche und symmetrische Position ein.

Die BKA-Forschung und fast die gesamte Ausbildungsliteratur sind sich darüber einig, dass es im Grunde nur zwei Strategien gibt:

"a. die zwangskommunikative Interaktionsebene, bei der der Beamte eindeutig als übergeordnet auftritt und b. die pseudo-symmetrische Kommunikation, bei der die Vernehmung 'auf der gleichen Ebene' abläuft." (Magulski 1982, 65)
Beide Strategien nutzen implizit die Erkenntnis, dass man im Alltag gegenüber ‚Vätern' und ‚Freunden' Kooperationsverpflichtungen hat, die gerade deshalb so zwingend und stabil sind, weil man sie nicht begründen muß. Gelingt es dem Ermittler, eine ‚Als-ob-Vaterschaft' bzw. eine ‚Als-ob-Freundschaft' zu etablieren, dann kann er die Vernehmung lange in Gang halten (vgl. Schröer 1992). Von daher ist polizeiliche Vernehmungsarbeit immer auch Beziehungsarbeitv.(5)

Allerdings - und das sei hier noch einmal ausdrücklich hervorgehoben - zielen die hier herausgearbeiteten Strategien auf das allgemeine Ziel der Gesprächsbereitschaft, also der Bereitschaft, sich weiter an der Debatte über den Schuldvorwurf zu beteiligen, nicht jedoch auf die Geständnismotivierung, also die Bereitschaft, den Schuldvorwurf einzuräumen. Letztere ist der Gegenstandsbereich des beantragten Projekts.

Die Herstellung von Geständnisbereitschaft läßt sich - das sei an dieser Stelle noch einmal nachdrücklich betont - nicht auf ein bloßes Kosten-Nutzen-Kalkül reduzieren. Dem widersprechen nicht nur die vorliegenden Befunde soziologischer und kommunikationswissenschaftlicher Untersuchungen, sondern auch die diskurshistorischen Befunde zur Funktion des Geständnisses in unserer Kultur (siehe 6.2.).(6) Seinem theoretischen Ansatz entsprechend faßt das Projekt das Geständnis nicht als eine reine Rechtshandlung auf, und sie beschäftigt sich nicht mit dem Geständnis in der Hauptverhandlung, sondern mit dem Geständnis innerhalb polizeilicher Vernehmungen bzw. innerhalb der funktional äquivalenten von Untersuchungsrichtern geführten Verhöre. In ihnen ist jede Erwägung über Vor- oder Nachteil eines Geständnisses in eine konkrete Vernehmungssituation eingebettet, in der erst die spezifischen Motivierungsstrategien und sozial-kulturellen Beweggründe zum Geständnis ihre Wirkung entfalten können.

6.2. Forschungen zur Diskursgeschichte des Geständnisses

Alle Versuche der Geständnismotivierung müssen auf außergerichtliche Erfahrungen rekurrieren. Solche Erfahrungen stellt die Kultur in Gestalt etwa der Beichtpraxis bzw. einer Theorie des Gewissens zur Verfügung, die über religiöse Bildung, Schulen, Literatur, Film, TV heute nahezu jeden erreichen. Dass es sich dabei um eine kulturelle Einrichtung handelt, ersieht sich aus dem rechtshistorischen Sachverhalt, dass kirchliche Beichte und der Beweis durch Geständnis (beide heißen in der juristischen Sprache confessio) eine Einrichtung der großen mittelalterlichen Rechtsreformen sind. Die Beichte ist heute noch durch das kanonische Recht geregelt (Papst Bededict XV ließ 1917 den canon 906 redigieren). Beichte und Geständnis sind nicht selbstverständlich und finden sich in dieser Form nicht in anderen Kulturen. Der große Komplex dieser Geständniskultur ist erst seit 25 Jahren zum Gegenstand der Wissenschaft geworden, und vorerst haben neben Foucault (1977) nur Rechtshistoriker (Legendre 1974), Soziologen (Hahn 1987, Maasen 1998, 357­471) und Literaturwissenschaftler (Schneider 1986, Schneider 1993) Beiträge geliefert.

Seit der Reformation gibt es die literarische Kultur des Geständnisses (Tagebuch, Autobiographie). Aber auch Institutionen wie Klöster oder wie die pietistischen Gemeinen hielten seitdem ihre Mitglieder dazu an, um ihrer seelischen Hygiene willen schriftliche Konfessionen niederzulegen (vgl. Le Brun, in: Hahn/Kapp 1987, 248-264). Bereits das Beichtdekret des Laterankonzils IV von 1215, der canon 22, betreibt die Psychologisierung und Medizinierung des Beichtgeständnisses mit dem motivierenden Argument, dass es zur seelischen und körperlichen Gesundheit beiträgt. Der Beichtvater heißt nach Alanus ab Insulis medicus spiritualis. Noch 1545-53 wurde durch Papst Pius V. auf dem Tridentiner Konzil ein Dekret erlassen, das alle Ärzte verpflichtete, einem Patienten erst dann Hilfe zu leisten, wenn dieser gebeichtet hatte. Von hierher schreibt sich eine Theorie des gesprochenen oder des schriftlichen Geständnisses, die zum hygienischen Paradigma der Beichte führt. Eine ihrer starken Filialen ist die Psychoanalyse (vgl. Legendre 1974). Aber zwischen 1880 und 1930 etwa wird das Schreiben der eigenen Autobiographie zu einem geläufigen Therapiemittel bei Persönlichkeitsstörungen verschiedenster Art (vgl. Schneider 1993).

Für die Diskursgeschichte des Geständnisses ist es fundamental zu sehen, dass es im Verbund mit dem Gerichtssystem eine institutionell gegründete Kultur des Geständnisses gibt. Der Mensch der neuzeitlichen Kultur im Abendland wird durch Institutionen zum Geständnis angehalten (Kirche, Schule, Gericht). Die moderne Psychologisierung des Gerichtsverfahrens, zumal des Verhörs(7), die Ersetzung der Folter durch die ‚Kenntnis des menschlichen Herzens' (so Svarez, der Schöpfer des Preußischen Landrechtes in den ‚Kronprinzenvorträgen', in: Svarez 1960, 35), setzen die Institutionalisierung des Psychischen voraus (vgl. Schneider 1994), an der auch die Literatur maßgeblich beteiligt ist. Die Ende des 18. Jahrhunderts entstehende ‚Rechtskultur' arbeitet unter Rückgriff auf literarische Modelle und Darstellungsformen an der Fortbildung des Geständnisdispositivs. Auf diesem Wege ist nicht zuletzt mit den seit 1800 immer zahlreicher erscheinenden Verbrecherautobiographien ein bedeutsames Textkorpus entstanden.(8)

Literatur

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Anmerkungen

(1) Im beantragten Projekt sollen nur Vernehmungen ohne Rechtsanwaltbeteiligung untersucht werden, da die Anwesenheit eines Anwalts für die Projektfragestellung eine völlig neue Situation schafft. Da Vernehmungen ohne Rechtsanwalt im polizeilichen Alltag den Normalfall darstellen, ist eine solche Einschränkung durchaus legitim - orientiert sich das Handeln des Anwalts doch vornehmlich an professionseigenen Verfahrenstaktiken. (zurück)

(2) Gerade weil es in der Projektarbeit um die Bereitschaft zur Offenlegung der 'materiellen Wahrheit' geht, konzentriert sich die Arbeit auf die Analyse polizeilicher Vernehmungen. Vernehmungen vor Gericht - denen die polizeilichen Vernehmungen bezüglich der Rechtsförmigkeit gleichgestellt sind - haben sich zwar ebenfalls an der materiellen Wahrheit zu orientieren, sind aber - unter anderem wegen der Zusammenarbeit von drei professionalisierten juristischen Berufen (Richter, Anwalt, Staatsanwalt) - vor allem als Teil des Verfahrens als Entscheidungsfindungsprozeß strukturiert (vgl. Luhmann 1969) und unterscheiden sich deshalb deutlich von den polizeilichen Vernehmungen. (zurück)

(3) In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass mit der Abschaffung der Folter dem Beschuldigten keineswegs schon ein Zeugnisverweigerungsrecht in eigener Sache eingeräumt worden war (vgl. zur Durchsetzung des Nemo-tenetur-Gedankens in Deutschland bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Rogall 1977, 87-103, Dingeldey 1984). Eine Wahrheitspflicht bestand nach wie vor. Um ihr Nachdruck zu verschaffen, wurden nunmehr als Zwangsmittel die sogenannten Lügenstrafen oder Ungehorsamstrafen (körperliche Züchtigungen, Haftverschärfungen) breit diskutiert (vgl. Mauss 1974, Hohbach 1831), wenn auch wahrscheinlich nicht sehr häufig explizit eingesetzt. Sie sollen zwar rechtsdogmatisch gesehen keine Zwangsmittel zur Geständnisgewinnung sein (vgl. Grolman 1798, 450), erfüllen aber offensichtlich diese Funktion, da sie sich gegen jeden Widerstand richten, der in Form offenbarer Lügen, Aussageverweigerungen oder Simulationen der Wahrheitserforschung entgegengesetzt wird (vgl. Quistorp 1789, plastische Fallschilderung bei Mejer 1810, 52f). Die Lügenstrafen treten etwa gleichzeitig mit der Forcierung der psychologischen Geständnismotivierung (exemplarisch Snell 1819) auf, die sie dann verdrängt. (zurück)

(4) Juristisch gesehen ist das Verhör nicht nur Untersuchungsmittel zur Erforschung der Wahrheit, sondern sie dient auch (vgl. § 136 II StPO) der Gewährung rechtlichen Gehörs. (zurück)

(5) Indirekt bestätigt wird die Bedeutung der Beziehungsarbeit für das Gelingen von polizeilichen Vernehmungen durch unsere zuletzt abgeschlossene Untersuchung zur Interkulturellen Kommunikation in polizeilichen Vernehmungen mit türkischen Migranten, in denen die Beziehungsarbeit systematisch misslingt. Die auf Kooperationsverpflichtung angelegte Beziehungsarbeit der Vernehmungsbeamten scheitert hier, weil die türkischen Beschuldigten aus ihrer migrantenspezifischen Randstellung heraus in den Vernehmungsbeamten nicht den vertrauten väterlichen Hüter einer gemeinsamen öffentlichen Ordnung sehen (Schröer 1998, 2000a und b). Indirekt wird so deutlich, dass die kompensatorische Beziehungsarbeit in polizeilichen Vernehmungen im Normalfall dann erfolgreich ist, wenn die Beschuldigten über das entsprechende kulturspezifische Orientierungsfundament verfügen. (zurück)

(6) Die informelle Zusage der Strafmilderung bei Ablegen eines Geständnisses (dazu etwa Gutterer 1995) bzw. die in Aussicht gestellte ganze ‚Härte des Gesetzes' bei seinem Ausbleiben (vgl. etwa Kallmann 1907) können zwar starke, nicht aber die ausschließlichen Geständnismotive darstellen (zu den rechtsdogmatischen Problemen siehe Dencker 1990; Jerouschek 1990). Ein Geständnis, das sich darauf zurückführen ließe, wäre letztlich kein Geständnis mehr im Sinne unserer Kultur, sondern ein guilty plea im Rahmen eines plea bargainings , wie es im anglo-amerikanischen Prozeß als Resultat einer Zwangsalternative (dazu Wertheimer 1987, 122-144; zur Strukturanalogie von plea bargaining und Tortur Langbein 1984, 224f) vorherrschend ist. (zurück)

(7) Zur Frage der 'Subjektpositionen im Verhör' hat Michael Niehaus eine vom Antragsteller Prof. Schneider betreute Habilitationssschrift eingereicht, die demnächst erscheinen wird. (zurück)

(8) Sie reichen von den berühmten Erinnerungen des kriminellen Multitalentes, Polizeispitzels und späteren Pariser Surêté-Chefs Francois Vidocq (1820), der vor der Hinrichtung niedergelegten Lebensgeschichte des Mörders, Wechselfälschers und Dichters Pierre-Francois Lacenaires (1836) über die erst kürzlich wiederaufgetauchten Gefängnistagebücher des Sissi-Attentäters Luigi Lucheni oder die Memoiren des Diebs und Hochstaplers Georges Manolescu (1905) bis zu Jean Genets Journal du voleur (1949). Solche Dokumente hat es vor 1800 kaum gegeben. Sie sind das Produkt des neuen diskursiven Systems, das solche literarisch verfaßten Dokumente zur Grundlage kriminologischer und kriminalpsychologischer Theorien erhebt (vgl. Lombroso 1899 und Jaeger 1905). (zurück)