panel 5b | 11.11.2011 | 15:30-17:00 | room 2 | german
DISTANZÜBERWINDUNG -
FLANIEREN, FAHREN, FERNSPRECHEN

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KATJA HETTICH (Bochum)
(Dis)Orienting Romance: Flanieren als Genreprinzip
in Richard Linklaters "Before Sunrise" und "Before Sunset"

Der Flaneur kann als symptomatische Figur der Moderne gelten. Der Stadtspaziergänger avancierte Mitte des 19. Jahrhunderts zum privilegierten Subjekt urbaner Wahrnehmung und damit zum Träger der Erfahrung von Moderne überhaupt. Als Topos und narratives Prinzip ist die Flanerie nicht nur mit dem Beginn moderner Literatur verknüpft. Die typischen Merkmale wie das bereits in der Lyrik Baudelaires gestaltete und in seinen kunsttheoretischen Schriften proklamierte kaleidoskopische Sehen präfigurieren Wahrnehmungs- und Darstellungsweisen des Kinos, das sich vor allem mit Großstadtfilmen der 1920er und 1930er Jahre die literarische Tradition der Flanerie für das eigene Medium aneignete.
Spätestens im Zuge postmoderner Theoriebildung wird jedoch von Kulturkritikern und Künstlern immer wieder das Ende des Flaneurs deklariert. Dabei lässt sich die Frage aufwerfen, inwiefern nicht gerade die Flanerie eine Brücke zwischen modernem und postmodernem Denken schlägt, eröffnet doch die konstitutive Richtungslosigkeit Erfahrungsweisen von Welt und Selbst, die sich nicht den stabilen Polen von Orientierung und Desorientierung zuordnen lassen, wie sie die Moderne in ihrer Zielgerichtetheit etabliert hat. Noch immer nutzen Filmemacher das Prinzip der Flanerie als Topos und ästhetische Ausdrucksform, wobei gerade über die Variationen des klassischen Modells sich wandelnde Subjekt-, Welt- und Erfahrungsmodelle und die Möglichkeiten ihrer narrativen und medialen Vermittlung verhandelt werden.
Ein solcher Rückgriff bei gleichzeitiger Variation des Flanerie-Konzepts lässt sich in Richard Linklaters Before Sunrise (1995) und Before Sunset (2004) beobachten. Der Vortrag wird zum einen skizzieren, wie der Topos hier den Veränderungen von Stadtwahrnehmung in der Postmoderne angepasst wird. Vor allem soll aber aufgezeigt werden, wie die Flanerie in diesen Filmen sowohl thematisch als auch narrativ und ästhetisch für eine spezifische Ausformung innerhalb der Romantic Comedy funktionalisiert wird, und zwar dergestalt, dass hier die für das Genre gemeinhin als äußerst stabile Konvention geltende Zielgerichtetheit des Plotverlaufs hin auf ein Happy End in den Hintergrund tritt.

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PETER VIGNOLD (Bochum)
Vergessen, Verdrängen, Erinnern – Traumatische (Des-)Orientierung
in Vincent Gallos "The Brown Bunny
"

Film als audiovisuelles Speichermedium ist untrennbar mit dem Konzept des sich Erinnerns verknüpft. Einmal aufgenommen, ist das Filmbild permanenter Bestandteil des filmischen Gedächtnisses und kann bis zu seiner vollständigen physikalischen Vernichtung stets wieder abgerufen und originalgetreu reproduziert werden.
Fast folgerichtig haben Filme immer wieder das Gedächtnis, das Vergessen und das sich Erinnern auf unterschiedliche Arten und Weisen aufgegriffen. Zu den prominenteren Vertretern dieser "Gedächtnisfilme" gehört Christopher Nolans Memento (USA, 2000), der das nur noch fragmentarisch funktionierende Kurzzeitgedächtnis seines Protagonisten durch a-chronologische Narration und Montage für den Zuschauer erfahrbar macht und sich mit Engell und Elsässer als so genanntes "Mind-Game Movie" bezeichnen lässt. Auch in Vincent Gallos entschleunigtem Road Movie The Brown Bunny (USA, 2002) spielen verlorene Erinnerungen eine zentrale Rolle, jedoch sind es nicht die vergessenen, sondern die verdrängten, deren schmerzhafte Bewusstwerdung eine Neubewertung der bezeugten Bilder notwendig machen. Auch dieser Film spielt ein Gedankenspiel mit dem Zuschauer, wenn er die Folgen eines verdrängten Traumas und der daraus resultierenden Schuldgefühle nicht erklärt, sondern ihn unmittelbar und direkt damit konfrontiert. Im meinem Vortrag möchte ich zeigen, welcher filmischen Mittel sich der Film bedient, um dies zu leisten, wie diese in die Narration eingreifen und dadurch teilweise widersprüchliche Wirkungen erzeugen, wie der Film Konzepte des Road Movie aufgreift und zum Stillstand bringt, sowie welche Rolle die Erzeugung von Authentizität bei der Darstellung der inneren Desorientierung seines Protagonisten spielt.

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NADINE DABLÉ (Lüneburg)
Zur gleichen Zeit an einem anderen Ort: Das (des)orientierende Telefon im Film

Die Inszenierung des Telefons im Film fällt durchaus vielfältig aus. Ob Netzverlust oder Missverständnis, falsch verbunden oder einfach aufgelegt, Drohanruf oder Liebesgeflüster: Telefone verbinden einerseits disparate Räume, akzentuieren zum anderen aber auch gerade die räumliche Trennung der Telefonierenden. In dieser spezifischen Dialektik aus Nähe und Ferne hat das filmische Telefon ein dramaturgisches Potential, das eines näheren Blickes wert ist.
Filmische Telefonate haben eine lange Tradition. Ihr erzählerisches Wirkungsvermögen zeigt sich etwa wenn im klaustrophobischen Raum einer Telefonzelle, die die Figur von ihrer unmittelbaren Umwelt trennt, das Telefon selbst zur alleinigen Handlungsmöglichkeit wird, das der Figur trotz der Isolation ein aktives Agieren ermöglicht. Oder umgekehrt, wenn durch das Telefon explizit auf das fehlende Kommunikationspotenzial, die Handlungsunfähigkeit der Protagonisten verwiesen wird.
Telefonate eröffnen zusätzliche Räume – nicht nur kommunikative, sondern durchaus auch physische – und bewirken so eine komplexe Verschachtelung des szenischen Geschehens. Ein Telefonierender kann Teil zweier Räume und damit zweier Situationen gleichzeitig sein. Das Visuelle und das Akustische können auseinanderdriften, wenn ein Telefonierender der Wahrnehmung der Zuschauer entzogen ist oder der Körper der Stimme bzw. die Stimme dem Körper beraubt wird.
Neue Kommunikationsmedien haben in den letzten Jahren neben diesen konventionellen auch ganz neue Konstellationen räumlicher Interdependenzen eröffnet. Einer Untersuchung dieses intermedialen Zusammenspiels der filmischen Darstellung von telefonischer Kommunikation mit ihrem dramaturgischen Potential zur (Des)Orientierung widmet sich der Vortrag.

 





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