panel 3a | 11.11.2011 | 10:00-11:30 | room 1 | german
DIGITALE IRRWEGE & LANDMARKEN
_________________________________________________

BENJAMIN BEIL (Siegen)
Von der Unreliable Narration zur Unreliable Prosthesis
(Des)Orientierungsstrategien des zeitgenössischen Computerspiels


Während sich das zeitgenössische Computerspiel einerseits geradezu von einem »Raumfetischismus« (Nohr 2007) besessen zeigt – d.h. es geht um die spielerische (meist kämpferische) Aneignung immer größerer, detaillierterer und immersiverer Spielwelt-Areale –, lässt sich andererseits eine zunehmende Destabilisierung dieser Spielräume beobachten. Der Spieler bewegt sich durch Traum- und Wahnwelten mit ›unberechenbaren‹ Funktionslogiken, virtuelle Raumstrukturen werden durch Diskontinuitäten und Stilisierungen aufgebrochen – von
paradoxen Portal-Verzweigungen über 2D-/3D-Hybridisierungen bis hin zu unmöglichen Räumen (Beil 2009).
Zentrum dieser Desorientierungsstrategien ist oftmals die Avatarfigur, die hier zum gestörten Filter (Chatman 1990, Branigan 1984) der Umgebungswahrnehmung wird. Damit schließt das Computerspiel an die Ästhetiken des aktuell vieldiskutierten Mindfuck- oder Mindgame- Movies (Elsaesser 2009) an (welches wiederum (postmoderne) »Dramaturgien des subjektiven Zweifels« (Weber 2008) weiterführt).
Bemerkenswert ist nun allerdings, dass die narrativ-räumliche Desorientierung im Computerspiel oftmals an Spielmechaniken gekoppelt wird, angefangen bei diversen audiovisuellen Irritationen, die den Spielfluss stören, bis hin zum gezielten Aussetzen der Avatar-Steuerung. Anders formuliert: Über die Doppelrolle des Avatars als Interface-Elemente (als Werkzeug des Spielers) und als Figur der diegetischen Spielwelt werden narrative Desorientierungsstrategien sozusagen spielerisch ›(re-)interpretiert‹, in eine narrativ-spielerische Dramaturgie des Kontrollverlusts umgesetzt. Der Avatar wird zur Unreliable Prosthesis (Klevjer 2006).
Der Vortrag möchte entlang verschiedener Fallbeispiele aufzeigen, wie sich der ›Kurzschluss‹ narrativer und spielerischer Desorientierung in der Hybridstruktur des zeitgenössischen Computerspiels manifestiert.

_________________________________________________

MARTIN SCHLESINGER (Bochum)
Game Space Odyssey

Flow cannot be understood without interruption or function without glitching. This is why glitch studies is necessary. (Glitch Studies Manifesto)
Mit ihrem Glitch Studies Manifesto (2011) hat Rosa Menkman sowohl einen theoretischen, aber vor allem praktischen Aufruf zur dauerhaften Desorientierung vorgelegt. Der von ihr gewünschte Bruch mit Erwartungen, Genres und Interfaces unterschiedlicher medialer Konstellationen, ist in Arbeiten der Glitch Art und als "critical trans-media aesthetics" (Menkman, 2011) vor allem in bewegten Bildern, in den Dokumentationen von Glitches, als audiovisuelle Störungen, compression artifacts, analoges und digitales Rauschen zu beobachten. Im Sinne einer "historiography of the glitch" geht es Menkman dabei nicht um eine zeitgenössiche Kunstform, sondern um ein allzeitiges, kritisches Medienbewusstsein, das abseits von Mode und Macht stets die 'anderen' Seiten und Formen der Medien erforscht; wobei die eigene Verwirrung und Orientierungslosigkeit als Hoffnung auf unvorhersehbare Ausformungen von Dispositiven programmatisch bleiben muss.
Neben den abstrakten Ausbrüchen einer Glitch-Ästhetik fallen die Glitches in Video- und Computerspielen, die game glitches, zumeist anschaulicher aus. Aber auch hier geht es in einer beständigen Suche nach Umwegen und Auswegen aus dem gameplay und den Grenzen einer game engine um die Sichtbarmachung des unsichtbaren medialen Funktionierens und der versteckten Bilder hinter den Bildern. Während in neuen Spielen wie z.B. L.A. Noire (2011) detailliertere Karten, höhere Auflösungen oder menschlichere Mimiken mittels immer besserer motion capture Verfahren vom linearen Fortschrittsglauben einer Upgrade-Kultur erzählen, gibt es die Hoffung auf Unterbrechung dieser Perfektion, eine Freude an der Dysfunktion, an der Schönheit des Scheiterns und die Utopie neuer medialer Realitäten.
"Force the audience to voyage the acousmatic videoscape" – in meinem Vortrag möchte ich vor allem auf Menkmans sechsten Punkt ihres Manifests eingehen und erläutern, inwieweit mit Tom Gunnings "Cinema of attractions" (Gunning, 2000) und mit Michel Chions Konzept des "Akusmatischen" (Chion, 1994:71pp) im Falle der game glitches von einem Internet-Dokumentarfilm-Genre gesprochen werden kann, in welchem sich ein neuartiger Typ von "acousmêtre" (129) manifestiert, der den Zuschauer in der Desorientierung orientiert.

_________________________________________________

JULIUS OTHMER / ANDREAS WEICH (Braunschweig)
Lost in Digitalization? Profile als Orientierungsgrundlage
in computerbasierten Medienkulturen


Jede Orientierung erfolgt immer auch über und in Medien. Heute sind diese Medien auf ihrer apparativen Ebene zumeist computerbasiert und die Orientierung im Realraum immer auch eine Orientierung in Datenräumen. Die Verortung im Realraum über Medien (z.B. per GPS) ist dabei genauso möglich wie die Verortung beispielsweise in Computerspielen durch Handlungen im Realraum (z.B. mittels der Wii, oder Xbox 360 Kinect). Die grundlegende These des hier skizzierten Vortrags ist, dass dem Konzept des Profils eine zentrale Funktion und Bedeutung bei der Orientierung in und durch computerbasierte(n) Medien zukommt.
Computerbasierte Profile sind in diesem Kontext zunächst als Wissenskomplexe zu charakterisieren, die bestimmte Attribute eines Subjekts in Form von Daten in einem vorgegebenen Ordnungsraster strukturieren. Das grundsätzliche Ziel ist dabei gleichzeitig die Vermessung als auch die Produktion von Datensubjekten zu verschiedenen Zwecken.
Zunächst dienen Profile der Identifizierung von Individuen. Für die Orientierung mittels computerbasierter Medien ist dies unmittelbarer notwendig, um Handlungen und Bewegungen im Raum an ein konsistentes Subjekt rückbinden zu können. Neben diesem ganz basalen "Ich bin gerade hier" ermöglichen viele Profile jedoch auch eine Orientierung im Raum über die Zeit: Durch das Bewegungsprofil meines Handys wird beispielsweise nachvollziehbar, wo ich wann war und somit auch abschätzbar wann ich wo sein werde. Dabei, aber beispielsweise auch durch Nutzerprofile in Musikportalen wie Last.fm, die die personalisierte Filterung von Angeboten und Informationen ermöglichen, werden Orientierungspraktiken wissbar und können meine eigene Orientierung verändern oder als Orientierung für andere dienen. Profile stehen somit als Wissenskomplex immer auch in Relation zu anderen Profilen. Über das Konzept der Konsumentenprofile ist es beispielsweise bei Amazon möglich, "Orientierungshilfen" der Form "Kunden, die dieses Produkt angesehen haben, interessierten sich auch für folgendes" zu produzieren. Gleichzeitig erfolgt über Profile u.a. auf Social Network Sites eine Verortung der Subjekte in verschiedenen Datenräumen: sowohl über naturalisierte Kategorien wie dem biologischen Geschlecht als auch über die politische Gesinnung oder die Anzahl der Kontakte bzw. "Freunde". Auf Online-Dating Sites strukturiert diese Art der profilbasierten Orientierung sogar die Suche nach einem potentiellen Beziehungspartner und wirkt so direkt auf realweltliche Praktiken, sowie soziale Ordnungen und Orientierungen ein. Neben der kritisch zu analysierenden Setzung der dabei verwendeten Kategorien ist die Orientierung der eigenen Subjektivität auf der Grundlage meines Profils und seiner Verortung in statistischen und/oder diskursiv gesetzten Norm(al)feldern interessant. In Computerspielen wie beispielsweise Wii Fit orientiert sich der Spieler über sein Profil u.a. an den Parametern, die der Body Mass Index vorgibt und richtet ggf. seine sportlichen Aktivitäten daran aus.
Aus diesen Beobachtungen und Annahmen lassen sich verschiedene Fragen zur Beziehung zwischen Profilen und der (Des)Orientierung ableiten, die im hier skizzierten Vortrag bearbeitet werden sollen: Sind Profile eine Reaktion auf die vielfältigen Desorientierungen in computerbasierten Medienkulturen? Welche diskursiven Einschreibungen lassen sich in den Profilen finden und wie beeinflussen diese die Praktiken der Orientierung? Sind computerbasierte Profile ein Medium der Selbstreflexion, das auf die Konstitution von Subjekten und der Orientierung ihrer Arbeit an sich selbst zurückwirkt? Vor dem Hintergrund dieser und weiterer Fragestellungen werden wir Orientierung mittels computerbasierter Profile an verschiedenen Beispielen von Location based media, über Social Network Sites und Computerspiele betrachten und analysieren.

 



beil

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

schlesinger

 

 

 

 

 

 

 




 

 

 

othmer

weich