panel 1b | 10.11.2011 | 15:00-16:00 | room 2 | german
CHAOTISCHE ZEITEN - ACHRONOLOGIE IN AUDIOVISUELLEN NARRATIONEN
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MATTHIAS BRÜTSCH (Zürich)
Verkehrte Welt? Rückwärtserzählen in Film, Fernsehserie und Literatur

Entrüsteter Gesprächspartner: «Trotzdem, ein Film muss doch einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben!» – Jean-Luc Godard: «Ja, aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge».

Dass die filmische (wie die literarische) Erzählform bezüglich ihres dramaturgischen Aufbaus und der zeitlichen Anordnung von Storyelementen große Freiheiten genießt, ist nicht erst seit Godards Bonmot bekannt. Trotzdem kommt es nur selten vor, dass die chronologische Abfolge radikaler in Frage gestellt wird, als dies einzelne Rückblenden zu tun vermögen. Die konsequente Umkehr der Abläufe in der rückwärts orientierten Erzählung stellt eine besonders herausfordernde Variante durchgreifender Neuordnung dar, stellt sie doch die fürs Verständnis der Handlung ansonsten zentrale Abfolge von Ursache und Wirkung auf den Kopf.
Welche Formen filmischer (und literarischer) Rückwärtserzählung sind bisher in Erscheinung getreten? Was genau läuft überhaupt rückwärts und was nicht? Welche Auswirkungen hat die Umkehr der Chronologie auf elementare Aspekte der dramaturgischen Gestaltung wie die Erzählperspektive, Spannungserzeugung oder Sympathielenkung? Wie läuft der Rezeptionsprozess ab, der in permanentem Spannungsverhältnis zwischen expliziter Rückwärtsdarstellung und impliziter Vorwärtsnorm steht? Fragen dieser Art versucht der Vortrag anhand ausgewählter Beispiele aus Film (Happy End, Betrayal, Memento Irréversible, 5x2), Fernsehserie (Seinfeld: Betrayal, X Files: Redrum, Star Trek: Before and After) und Literatur (Spiegelgeschichte, Counter-Clock World, Times Arrow) zu beantworten, mit besonderem Augenmerk auf Strategien narrativer Des- und Neuorientierung.

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JULIA ECKEL (Bochum)
Zeitenwende(n) des Films - Temporale Desorientierung im aktuellen Erzählkino

Desorientierung ist in den meisten Fällen ein räumlich gedachtes Phänomen, das mit der Frage „WO bin ich?“ einhergeht. Die Frage „WANN bin ich?“ ist hingegen weniger geläufig, denn während unsere räumliche Vorstellung eine Bewegung innerhalb von drei Dimensionen erlaubt, verwehrt uns die vierte das Bewegen in ihr. Und selbst die Idee von Zeit als linearer Verlauf erweist sich bei genauerer Betrachtung als nichts anderes, als eine räumliche/bildliche Metapher für ein Phänomen, das uns in seiner stets gegenwärtigen Flüchtigkeit als unfassbar erscheint.
Nicht zu wissen, WANN man ist, gehört also in den meisten Fällen in den Bereich des Psycho-Pathologischen, in science-fiktionale Zeitreise-Phantasien – oder aber ins Kino.
Denn gerade der Spielfilm, als raumzeitliche Illusion, ermöglicht es, die zeitliche Linearität des Betrachtungsvorgangs von der zeitlichen Linearität des betrachteten Inhalts zu lösen und somit zeitliche Konfusionen zu kreieren.
Dies geschieht vor allem im Erzählkino der letzten 20 Jahre in einer interessanten Vielfalt, die ich in meinem Vortrag gern genauer beschreiben möchte. Filme wie Memento, 21 Gramm, 11:14, Lola rennt oder eXistenZ erscheinen uns dank ihrer achronologischen Gestaltung als seltsame Wahrnehmungsexperimente, die zeitliche Desorientierung stiften und parallel, in der expliziten Zurschaustellung der Konstruiertheit der präsentierten Raum-Zeit-Universen, die gleichzeitige Linearität und Nonlinearität des Filmischen an sich betonen.
Der Vortrag will anhand dieser und ähnlicher Beispiele Zeitkonzepte und Narrations-Muster nonlinearer Filme typologisieren und der Frage nachgehen, inwieweit das temporal nonlineare Erzählen im Diskurs um eine mögliche (postmoderne) Krise der Linearität zu verorten ist.

 



 



 

Matthias Bruetsch

 

 

 

 






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