On Natural Sanctuaries and ‘Temple Towns’:

Religion at the Crossroads between Nature and City in Ancient Anatolia and the Aegean

Ein Forschungsprojekt von Ben Müller (Stand: 24 Sep 2021 v1.0).

Abstract:

Seit seiner Sesshaftwerdung zur Zeit der Jungsteinzeit hat der Mensch die Natur im Wesentlichen als Gegenstück zu seiner Kultur und seinen Siedlungen erlebt. In vielen alten Zivilisationen wurde die Natur oft als Ort des Chaos angesehen, das von Göttern und dämonischen Kräften beherrscht wird. Und obwohl die Herausbildung religiöser Traditionen in der Regel in einer städtischen Umgebung stattfand, wurden viele Tempel und Zeremonialstätten in der Nähe spektakulärer Orte wie natürlicher Wasserquellen, bizarrer Felsformationen, Höhlen, Grotten und Haine errichtet. Diese Orte werden gemeinhin als ‚Naturheiligtümer‘ bezeichnet. Neben einer allgemeinen Einführung in das Naturverständnis der Antike werden in diesem Beitrag verschiedene Typen von Naturheiligtümern im antiken Anatolien und in der Ägäis aus hethitischer und griechischer Zeit vorgestellt sowie ihre besondere sinnlich-körperliche Erfahrung und die Frage nach ihrer Beziehung zu den lokalen Stadtkulten diskutiert. Auf Grundlage neuster archäologischer Forschungen und Veröffentlichungen auf diesem Gebiet wird gezeigt, dass diese Form des sakralen Raums z.T. künstlich in den urbanen Kontext der Stadt integriert wurde, ohne dabei seine besondere Ästhetik zu verlieren.

Tags: Naturheiligtümer — Antike — Höhlen — Quellen — Pagane Religionen — Anatolien — Religion und Umwelt

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Disclaimer: Dieser Artikel befindet sich noch in der Begutachtungsphase. Es handelt sich um einen vorläufige Veröffentlichung.

Die Beziehung zwischen Mensch und Natur und der Wunsch nach einer neuen Symbiose

Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich ein weltweiter Umdenkprozess feststellen, ausgelöst durch die enormen Veränderungen, die mit der Industrialisierung und der damit verbundenen Zerstörung der natürlichen Umwelt einhergehen. Die zunehmenden ökologischen Probleme, mit welcher die Menschheit konfrontiert ist, wie der Verlust der biologischen Artenvielfalt oder der vom Menschen verursachte Klimawandel, haben viele dazu veranlasst, ihre Einstellung zur Natur zu überdenken. Durch die steigende Zahl von Naturkatastrophen, wie etwa die jüngsten Überschwemmungen in West- und Mitteleuropa im Juli 2021, welche weitreichende Schäden verursachten und mindestens 221 Menschen das Leben kosteten, darunter 184 allein in Deutschland (Die Zeit 2021; MDR 2021), wird in vielen Teilen der Gesellschaft die Forderung nach einer nachhaltigeren Umweltpolitik laut. Die 2018 von Greta Thunberg ins Leben gerufene Protestbewegung Fridays for Future ist wohl das prominenteste Beispiel jener Gegenbewegung. Zudem haben Umweltbelange längst auch den theologischen Diskurs erreicht und neue religiöse Bewegungen wie Neuheidentum, Animismus und Wicca spiegeln den Wunsch vieler Menschen nach einer erneuten Harmonie zwischen Mensch und Mutter Natur wider.

Trotz jenes wachsenden Bewusstseins schreitet die Ausbeutung natürlicher Ressourcen und die Umwandlung unberührter Naturräume in vom Menschen beherrschte Kulturräume ungehindert zu. Dazu gehört auch die zunehmende Urbanisierung. Mittlerweile leben mehr als fünfzig Prozent der Weltbevölkerung in Städten (Rüpke 2020, 1). Für viele dieser Menschen ist das Leben in der Stadt zum einzig vorstellbaren Lebensstil geworden. Wie Rüpke in der Einleitung zu seinem kürzlich erschienenen Werk über urbane Religion treffend zusammenfasst, sind urbane Zentren nicht nur “die Motoren von Innovation und die Epizentren der Globalisierung” (2020, 1). Neue ideologische Bewegungen sind immer auch das Ergebnis ihres kulturellen Umfelds und der Erfahrungen seiner Bewohner (2020, 2–3, 17–18). Und so ist es anzunehmen, dass die oben erwähnte Bewegung in Richtung eines neuen Naturbewusstseins mit dem erlebten kulturellen Umfeld jener Stadträume zusammenhängt. (Cf. Weiss 2021, 126). Tatsächlich sehen viele Archäologen und Religionswissenschaftler Religion als ein vorwiegend urbanes Phänomen und halten den urbanen Kontext und seine Akteure für sehr wichtig für die Entwicklung religiöser Traditionen (Lätzer-Lasar et al. 2021, 3). Letztlich scheint der aktuelle Aufschrei angesichts unserer sterbenden Welt das verzerrte Verhältnis zwischen den Lebensbedingungen des Anthropozäns und dem in der modernen Gesellschaft vorherrschenden allgemeinen Naturbegriff widerzuspiegeln, ein Konzept, welches tief in den Traditionen der agrarischer und urbaner Zivilisationen der Antike verwurzelt ist.

Doch wie sah diese Beziehung zwischen Natur und Urbanität zu anderen Zeiten innerhalb der Geschichte aus? Als ein Beitrag innerhalb des studentischen Forschungsprojekts ARELINCO des Center for Religious Studies (CERES) an der Ruhr-Universität Bochum, das sich auf die Identifizierung und Untersuchung zeitgenössischer religiöser Phänomene und Konfliktsituationen und ihrer historischen Parallelen bzw. möglichen Vorläufer in der Antike konzentriert, möchte der Autor in dem vorliegende Artikel “On Natural Sanctuaries and ‘Temple Towns’: Religion at the Crossroads between Nature and City in Ancient Anatolia and the Aegean” diese Frage beantworten und dabei folgenden Punkte besonders behandeln:

  1. Welche Rolle spielt Religion im Prozess der Urbanisierung und wie beeinflusst der städtische Kontext religiöse Traditionen?
  2. Wie wurde in der Antike sakraler Raum geschaffen, und gab es spezifische Formen sowohl städtischer als auch nicht-städtischer Religion?
  3. Welches Naturverständnis herrschte in der Antike vor und in welcher Weise wurde die Natur verehrt?
  4. Wie wurden die Natur und Naturheiligtümer in die Stadt und ihre Umgebung integriert?

Der geographische und zeitliche Schwerpunkt dieser Arbeit liegt dabei auf Anatolien und der Ägäisküste zur Zeit des Hethiterreiches sowie der griechischen Archaik und des Hellenismus. Zunächst wird ein allgemeiner Überblick über das Naturverständnis und die Einstellung zur Natur im antiken Mittelmeerraum und Mesopotamien behandelt. Anschließend werden einzelne Phänomene der Naturverehrung und die verschiedenen Typen hethitischer und griechischer Naturheiligtümer mit ihren jeweiligen Merkmalen untersucht. Und schließlich wird anhand einiger ausgewählter Beispiele die Frage erörtert, wie Naturheiligtümer in ein städtisches Umfeld integriert wurden und in welchem Verhältnis sie zu den dort ansässigen Tempelkulten standen.

Das Naturverständnis zur Zeit der Antike

Was die Quellenlage betrifft, so findet die Beziehung zwischen Mensch und Natur in den antiken Texten nur wenig Erwähnung. In vielen Quellen werden Natur und Wildnis lediglich als Orte des Chaos und dämonischer Kräfte beschrieben. So charakterisiert bspw. Herodot einige ferne Lande als “leer” (gr. ἐρῆμος) und “ohne Wasser, Wildnis, Regen oder Holz” [4.185.3] (Konstantopoulos 2017, 3, 9). Die Zurückhaltung der antiken Autoren angesichts dieser Thematik bedeutet allerdings nicht, dass uns keinerlei Informationen zum damaligen Naturverständnis vorliegen. Die impliziten Naturdarstellungen in der mesopotamischen, anatolischen und griechischen Kunst und Literatur geben einen umfassenden Einblick in den Umgang dieser Zivilisationen mit der Natur, sowohl im täglichen als auch im religiösen Leben (Engels, Huy, and Steitler 2019, xi-xii).

Mesopotamien

Die Bewohner des Zweistromlandes hatten vermutlich kein so umfassendes Konzept von Natur wie wir heute. Weder im Sumerischen noch im Akkadischen ist uns ein spezifischer Begriff für “Natur” überliefert (Ambos 2018, 19; Pruß 2018, 33). Dennoch ist es nicht verwunderlich, dass im Land zwischen Euphrat und Tigris, welches die ersten Städte der Menschheitsgeschichte hervorbrachte (Trigger 2007, 94), in vielen Texten zwischen dem Leben in der Stadt und dem unzivilisierten Leben in der Wildnis unterschieden wird (Ambos 2018, 19; Pruß 2018, 33). Nur das städtische Leben galt als kultiviert. Was die Stadtbewohner von den ‘Wilden’ unterschied, waren ihre kulturellen Fähigkeiten. Dem babylonischen Schriftsteller Beressos zufolge erlernten der Mensch vom Fischmann Oannes die Kulturtechniken wie Ackerbau, Tierzucht sowie die Schrift. Dies ermöglichte es ihm, seine barbarische Lebensweise hinter sich zu lassen und sich von der Natur zu emanzipieren (Ambos 2018, 19, 23–24). Das Wissen um die Bewirtschaftung der Felder und die Instandhaltung der Bewässerungssysteme galt als Lebensgrundlage (Akk. napištu) und Naturdarstellungen in der mesopotamischen Kunst beschränkten sich in der Regel auf Motive aus der Landwirtschaft, d.h. domestizierte Pflanzen und Tiere, wie z.B. Darstellungen von Getreideähren oder Rindern auf Rollsiegeln (vgl. Pruß 2018, 36).

Dagegen wurde all jenes außerhalb der Stadttore als unzivilisiert und bedrohlich wahrgenommen. So galten die Wüsten, Berge (Sum. kur; Akk. šadu), Sümpfe und Graslandschaften (Sum. edin; Akk. ṣēru) als das Reich der Dämonen (Feldt 2016, 354–55; Hutter 1996, 52; Ambos 2018, 19–20; Pruß 2018, 33). Die Vielzahl der Dämonen und übernatürlichen Wesen der mesopotamischen Kosmologie repräsentierten in der Regel abstrakte Konzepte, Naturphänomene und katastrophale Ereignisse wie Stürme, Dürren und Krankheiten. Einige dieser Wesen wurden als “Winddämonen” bezeichnet, da sie, so glaubte man, wie ein Windhauch in die Häuser und Körper der Menschen eindringen und dort Krankheiten verursachen. Andere Texte wie die sog. Maqlū-Beschwörungformeln vermitteln nicht nur einen guten Eindruck von der Vielzahl bösartiger (Sum. HUL; Akk. lemnu) Dämonen, sondern zeigen darüber hinaus auch, dass es vor allem die Berührung durch den Dämon war, von dem man annahm, dass sie das Unheil übertrage:

Den bösen utukku habt ihr mich packen lassen: der böse utukku packe euch! Den bösen alū habt ihr mich packen lassen: der böse alū packe euch! Den bösen Totengeist [(Akk. eṭemmu)] habt ihr mich packen lassen: der böse Totengeist packe euch! Den bösen gallū habt ihr mich packen lassen: der böse gallū packe euch! Den bösen Gott [(Akk. Ilu lemnu)] habt ihr mich packen lassen: der böse Gott packe euch! Den bösen Lauerer [(Akk. rābiṣu)] habt ihr mich packen lassen: der böse lauerer packe euch! Die Lamaštu, den labāṣu-Dämon, den Packer [(Akk. aḫazu)] habt ihr mich packen lassen: Lamaštu, der labāṣu-Dämon, der Packer soll euch packen! Lilū, Lilītu, das Lilū-Mädchen habt ihr mich packen lassen: Lilū, Lilītu, das Lilū-Mädchen soll euch packen (Hutter 1996, 51).

Die folgende Beschwörung beschreibt, wie der Dämon Samānu aus der Wildnis in die Stadt kommt, indem er den Fluss überquert, um dort Krankheit unter den Menschen zu verbreiten.

Samānu came down from the mountain; Samānu crossed the river [(the act of leaving the wilderness)]. Samānu poured di’u like water down over the black-headed people. It afflicted the ox on his horn, the donkey on his hoof, the young woman on her breastbone, the sucking infant on the muscles of his neck. (Scurlock and Andersen 2005, 65; see also Leick 2003, 223)

Um einen Dämon auszutreiben, musste man ihn in die Wildnis zurückschicken (Ambos 2018, 21). Die in der Bibliothek König Ašurbanipals in Niniveh gefundene und ca. 600 Zeilen umfassende Lamaštu-Serie (Lam I-III) ist die umfangreichste Textquelle über die kinderfressende Dämonin Lamaštu und ihre Austreibung durch den Exorzisten (Akk. āšipu) (Wiggermann 2000, 237). Einige Beschwörungsformeln beschreiben den einen solchen Exorzismus anhand der Herstellung von drei Lamaštu-Figuren, die entweder begraben oder über den Fluss in die Wildnis zurückgeschickt werden sollten (Lam II 43) (Wiggermann 2000, 239–40; Farber 1987, 85). Die Texte korrespondieren mit mehreren Schutzamuletten, welche Lamaštu auf einem Boot kniend darstellen und den eigentlichen Akt ihrer Austreibung symbolisieren (vgl. Wiggermann 2000).

Allerdings wurde die Natur nicht nur mit schrecklichen Dämonen assoziiert. Seit der Uruk-Zeit (ca. 3300–2900 v. Chr.) scheinen Darstellungen von gefährlichen Mischwesen wie dem Anzu-Vogel die unterschiedlichen Kräfte der Natur zu repräsentieren. In ihrem jüngsten Beitrag zur vorderasiatischen Wassersymbolik erörtert Pientka-Hinz u.a. die ikonographische Darstellung von Mischwesen. Das gewundene Schlangenmuster oder der schlangenhalsige Löwe, welche auf vielen elamischen und sumerischen Darstellungen zu finden sind, symbolisieren nach ihrer Interpretation nicht nur Fruchtbarkeit und eine sichere Wasserversorgung. In sich verflochten verbinden sie zudem die durch die anderen Mischwesen repräsentierten Naturkräfte und symbolisieren so das harmonisierende Prinzip der Natur, welches Pientka-Hinz als “kosmisches Gleichgewicht” bezeichnet (Pientka-Hinz 2021; siehe auch Wiggermann 2008, 102).

Ein weiterer interessanter Aspekt der Mensch–Natur-Beziehung im alten Mesopotamien sind die königlichen Menagerien und botanischen Gärten, die von den Herrschern zur Sammlung und Haltung seltener Tier- und Pflanzenarten angelegt wurden, darunter Giraffen, Geparden und Affen aus Afrika, Robben aus dem Mittelmeerraum sowie Bären und Elefanten aus Asien (Polinger Foster 1999, 64). Die umfangreichsten Belege jener ersten Zoos stammen von assyrischen Palastreliefs (ca. 880–627 v. Chr.). Die dort ausgestellten Arten und Kuriositäten dienten in erster Linie dazu, die Macht und den Ruhm des Herrschers zu demonstrieren und wurden vielfach in der Kunst dargestellt (Polinger Foster 1999, 64).

Anatolien und die Ägäis

Verglichen mit Mesopotamien ist über die Hethiter und ihre Beziehung zur Natur nur wenig bekannt. Es ist jedoch nicht verwunderlich, dass in den rauen und abgelegenen Bergregionen Irans und Anatoliens insbesondere Regen- und Wettergötter einen wichtigen Platz in den lokalen Götterpanthea einnahmen. Wie im Artikel behandelt wird, spielten zudem Bergkulte und Freiluftheiligtümer an Quellen und Seen eine wichtige Rolle bei der Verehrung jener Gottheiten (Pruß 2018, 34).

Mandel zufolge wird von der griechischen Kunst manchmal behauptet, sie sei nicht an der Darstellung von Natur interessiert. Und tatsächlich war die griechische Kunst der Antike vorwiegend anthropozentrisch (2018, 59). Dennoch gibt es einige wenige Naturdarstellungen auf Keramiken der Protogeometrischen (1050/30–900 v. Chr.) und Geometrischen Epoche (ca. 900–700/675 v. Chr.) (Mandel 2018, 59). Der Stil dieser Epochen zeichnet sich durch abstrakte Ornamente und Musterfolgen wie Mäander und Kreuzschraffuren aus, während figürliche Darstellungen von Menschen, Tieren und Pflanzen sehr reduziert sind (vgl. Mandel 2018, 60–61). Ab dem 8. Jahrhundert finden sich dann Naturdarstellungen in der Vasenmalerei immer häufiger. Die charakteristischen Trennlinien der geometrischen Epoche entwickelten sich allmählich zu Bodengrundlinien und geometrischen Formen wie Dreiecke stellten nun z.T. Bodenvegetation und Bäume dar (Mandel 2018, 68, 74). Gegen Ende der Geometrischen Periode wurde die geschwungene Linie eingeführt und so Pflanzen und Blattwerk ein organischeres Aussehen verliehen. (Mandel 2018, 68, 74).

Naturheiligtümer im antiken Anatolien und der Ägäis

Der zweite Teil des Artikels befasst sich mit Naturheiligtümern in der hethitischen und griechischen Religion und ihrer Rolle in der religiösen Landschaft des antiken Anatoliens und der ägäischen Küste. Nach einer allgemeinen Einführung in die Terminologie und einer Definition von Naturheiligtümern werden auf Grundlage jüngster archäologischen und philologischen Forschungen in diesem Bereich die wichtigsten Arten von Naturheiligtümern, ihre Merkmale und ihre Einbindung in die lokalen hethitischen und griechischen Kulte erörtert.

Terminologie und Definition

Natur ist ein raumbestimmender Bestandteil vieler hethitischer und griechischer Tempel und Heiligtümer. Oftmals wurden diese an eindrucksvollen Landmarken oder in der Nähe von natürlichen Wasserquellen, Hainen, Gärten, Festwiesen und öffentlichen Grünflächen errichtet (Neumann 2018, 258; Schimpf 2018, 209). In einigen Fällen wurden diese natürlichen Formationen aufgrund ihres ikonischen Charakters selbst zu Orten der Verehrung, die wir heute gemeinhin als “Naturheiligtümer” bezeichnen. Aber was genau ist damit gemeint?

Wie bereits erwähnt findet die Beziehung zwischen Mensch und Natur in den antiken Quellen eher wenig Erwähnung. Selbiges gilt für schriftliche Berichte über die Qualität von Naturheiligtümern. Dennoch gibt es einige wenige Beschreibungen, wie etwa die des griechischen Satirikers Lukian. Dieser schreibt:

Zuerst haben sie [die Menschen] für die Götter Haine abgesondert, Höhlen geweiht, Vögel geheiligt und jeder Gottheit eine besondere Pflanze beigelegt; und dann habe jedes Volk für sich eine Gottheit verehrt und die als bei sich wohnend betrachtet […]. Zuletzt endlich habe man den Göttern erst Tempel errichtet, damit sie nicht ohne Haus und ohne Herd sind, sowie Bilder, welche die Götter darstellten. (Engels, Huy, and Steitler 2019, xiii–viv)

Abgesehen von Lukians ironischem Unterton enthüllt die Passage sehr wichtige Informationen über die religiöse Praxis im Zusammenhang mit Naturheiligtümern. Lukian erwähnt Haine und Höhlen in der Nähe von Tempeln als Orte, die den Göttern vorbehalten sind. Und tatsächlich scheinen alle von den Archäologen als Naturheiligtümer identifizierten Kultpläte mit denselben kanonischen Kulten verbunden zu sein, die zu jenen Göttern gehörten, die auch in den Tempeln der Städte verehrt wurden. Bei den Griechen wurden heilige Quellen, Haine (Gr. αλσος) und Gärten (Gr. κῆποι) oft mit der Göttin Aphrodite oder den Nymphen in Verbindung gebracht (Neumann 2018, 259–61). Keiner dieser Kulte war durch den Glauben an eine ursprüngliche oder unpersonifizierte Kraft der Natur konstituiert (Engels, Huy, and Steitler 2019, xvi-xvii), wie es im heutigen Neuheidentum oftmals der Fall ist. Der Begriff “Naturkult” erscheint daher unangemessen und sollte in diesem Zusammenhang vermieden werden. In der Tat gibt es, wie Engels et al. feststellen, keine systematischen Unterscheidungskriterien zwischen Naturheiligtümern und anderen ‘kanonischen’ Stätten, wie bspw. Schreinen und Tempeln (2019, xviii; Engels 2019, 129). Es erscheint daher sinnvoll, Naturheiligtümer nicht durch spezifische Kultpraktiken zu definieren, sondern anhand des lokalen Kontext und der natürlichen Merkmale, die diese Orte aufweisen (vgl. Engels, Huy, and Steitler 2019, xiii). So diente ein großer Teil der Quellheiligtümer dem praktischen Zweck der Wasserversorgung von Städten (Schimpf 2018, 2010–11; 2019, xiv), wobei die Nähe und das Verhältnis von Naturheiligtümern zur Stadt von besonderer Bedeutung sind. Neben den verschiedenen Arten von Naturheiligtümern wird dieser Aspekt und die besondere sakrale Bedeutung der Stadtrandzone – dort wo urbaner Raum und Natur aufeinandertreffen – im Artikel näher behandelt.

Ergebnis

Was das Verhältnis der antiken Völker zur Natur betrifft, so lassen die historischen Quellen keine Rückschlüsse auf einen umfassenden Naturbegriff zu. Es wurde argumentiert, dass unsere antithetische Unterscheidung zwischen der Natur und der menschlichen Kultursphäre ein Erbe ist, das größtenteils aus den alten Zivilisationen stammt, aus einer Zeit, in der Probleme wie die globale Erwärmung und der Verlust der biologischen Vielfalt noch keine Rolle spielten, sondern die Natur allgemein als unbekannt und gefährlich angesehen wurde. Dementsprechend wurde die Wildnis vor allem als das Reich der Barbaren, Götter und übernatürlichen Wesen betrachtet. Die Orte der Zivilisation und der Sicherheit waren dagegen die Städte und die städtischen Gebiete. Wie oben dargestellt, fand und findet die Entwicklung und Reproduktion von Religion vor allem in städtischen Kontexten statt. Parallel zu dieser Verstadtlichung der Religion findet jedoch auch eine Sakralisierung bestimmter Naturräume wie Felsen, Höhlen und Grotten, Berge, Quellen und Seen statt. Noch einmal sei betont, dass diese Kultplätze nicht Teil eines ursprünglichen Naturkultes im neuheidnischen Verständnis waren und sich systematisch nicht von denen in den Tempeln der Städte unterschieden, sondern deren natürlicher Charakter eine besondere sinnlich-körperliche Erfahrung bot, die durchaus intentionalisiert und gepflegt wurde.

In vielen antiken Siedlungen in Anatolien und der Ägäis waren Naturheiligtümer oft am Rande der städtischen und suburbanen Umgebung integriert. Als Grenzraum zwischen Natur und Stadt galten diese Gebiete als heilige Räume und waren Schauplatz einer Reihe von rituellen Handlungen. Die an diesen Schwellen errichteten Naturheiligtümer waren nicht nur Ausdruck der besonderen religiösen Bedeutung dieser Orte, sie definierten auch den Stadtrand und dienten den Stadtbewohnern als Anlaufstelle, um außerhalb der schützenden Stadtmauern mit der Natur in Kontakt zu treten.

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