Das Phänomen „Mysterienkulte“:

Ihre Charakteristika und ihr Einfluss

Ein Forschungsprojekt von Sophie Kampmann (Stand: 24 Nov 2021 v1.0).

Abstract:

Mindestens seit dem 6. Jh. v. Chr. gab es so genannte „Mysterienkulte“ im antiken Griechenland und Rom. Ihre Existenzzeit und ihre genaue Ausbreitung sind nicht bekannt. Sie waren Geheimkulte, in die meist jeder Mensch initiiert werden konnte. Neben den offiziellen Kulten im antiken Griechenland und Rom, waren die Mysterienkulte, die Kulte, in die man freiwillig noch zusätzlich eintreten konnte. Sie sind ein Phänomen, dass als „Mysterienkult“ oder „Mysterium“ nur in der antiken griechisch-römischen Religionsgeschichte auftritt. Trotzdem werden ihnen orientalische und ägyptische Einflüsse zugesprochen. Sie sollen möglicherweise sogar aus diesen Kulten übernommen und importiert gewesen sein.

Mithilfe selbst herausgearbeiteter Charakteristika der Mysterienkulte, möchte ich die Verbindung zum alten Orient untersuchen, um herauszufinden, ob es dort auch Mysterienkulte gab, die möglicherweise nur nicht so benannt wurden. Außerdem möchte ich die Verbindung zwischen den Mysterienkulten und dem Christentum untersuchen, um herauszufinden, ob das Christentum auch als „Mysterienkult“ bezeichnet werden könnte.

Tags: Römische Antike — Griechische Antike — Feste und Rituale Mysterienkulte — Christentum

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Disclaimer: Dieser Artikel befindet sich noch in der Begutachtungsphase. Es handelt sich um einen vorläufige Veröffentlichung.

Einleitung

Spätestens seit dem 6. Jh. v. Chr. gab es so genannte „Mysterienkulte“ im antiken Griechenland und Rom. Ihre Existenzzeit und ihre genaue Ausbreitung sind nicht bekannt. Sie waren Geheimkulte, in die meist jeder Mensch initiiert werden konnte. Neben den offiziellen Kulten im antiken Griechenland und Rom waren die Mysterienkulte die Kulte, in die man freiwillig noch zusätzlich eintreten konnte. Sie sind ein Phänomen, das als „Mysterienkult“ oder „Mysterium“ nur in der antiken griechisch-römischen Religionsgeschichte auftritt. Trotzdem werden ihnen orientalische und ägyptische Einflüsse zugesprochen. Sie sollen möglicherweise sogar aus diesen Kulten übernommen und importiert worden sein.

Mithilfe selbst herausgearbeiteter Charakteristika der Mysterienkulte möchte ich die Verbindung zum Alten Orient untersuchen, um herauszufinden, ob es dort auch Mysterienkulte gab, die möglicherweise nur nicht so genannt wurden. Außerdem möchte ich die Verbindung zwischen den Mysterienkulten und dem Christentum untersuchen, um herauszufinden, ob das Christentum auch als „Mysterienkult“ bezeichnet werden könnte.

Charakteristika der Mysterienkulte

Was macht einen Mysterienkult aus und was ist „typisch“ für ihn? Was haben die vielen verschiedenen Mysterienkulte gemeinsam und wo bestehen Unterschiede?

Geheimhaltung

Die Geheimhaltung ist wohl das wichtigste und typischste Charakteristikum für einen Mysterienkult. Das Ziel war die Nicht-Ausbreitung des Glaubens und die Bewahrung der zentralen Geheimnisse (Burkert 2003, 48). Alle Riten, die in diesen Kulten stattfanden, vor allem die Initiationsriten, waren streng geheim (“Der Neue Pauly — Brill” n.d.). Nur eingeweihte Mitglieder wussten Genaueres von diesen Riten. Allerdings gab es auch in verschiedenen Mysterienkulten einige für Außenstehende sichtbare Riten, wie zum Beispiel die Prozession bei den Eleusinischen Mythen oder dem Isiskult. Die Geheimhaltung und alleine schon die Bezeichnung „Mysterien(-kulte)“ verheißen Spannung und Geheimnisse und zeigt, wie wichtig dieser Aspekt innerhalb der Mysterienkulte war (Burkert 2003, 9).

Aufnahmeriten / Initiation

Die Aufnahmeriten und die Initiation sind ebenfalls sehr wichtige Charakteristika der Mysterienkulte, da sie Bestandteile aller Kulte waren. Sie konnten allerdings sehr stark zwischen den Kulten variieren.
Die Anzahl verschiedener Initiationsriten oder auch Initiationsstufen war unterschiedlich. Im Mithraskult gab es zum Beispiel sieben verschiedene Weihestufen, während es im Eleusis-Kult und im Kult der Samothrake nur zwei Stufen gab und bei den Dionysoskulten wahrscheinlich nur eine einzige. Die verschiedenen Stufen, in die man initiiert werden konnte, bzw. die man innerhalb eines Kultes durchlaufen konnte, sorgten für eine gewisse Hierarchie innerhalb des Kultes. Durch die Initiation erfuhr der Initiand eine grundlegende Änderung seiner Selbstdefinition. Er ging eine Beziehung mit dem Gott des Mysterienkultes ein, die bis ans Lebensende bzw. darüber hinaus bis zur Wiedergeburt hielt.
In vielen Kulten gab es vor dem eigentlichen Initiationsritual noch andere Rituale, die vorher abgeschlossen werden mussten. Im Mithraskult zum Beispiel gehörte dazu das Durchstehen verschiedener Mutproben, wie tagelanges Schwimmen oder ins Feuer geworfen zu werden (Bremmer 2014, 133).
Essen und Trinken spielten ebenfalls sehr oft eine große Rolle in den Initiationsritualen, genauso wie die Unterweisung in die einzelnen Riten des Mysterienkultes, da jeder Kult andere Riten besaß. Das Erlernen und die Übergabe des Wissens der Mysterienkulte waren ebenfalls Teil der Initiationsrituale. Hier erhielten die Initianden das „vollkommene Wissen“ des Mysterienkultes (Burkert 2003, 59).
Wer initiiert werden durfte, war ebenfalls von Kult zu Kult unterschiedlich. Bei den meisten Kulten spielten das Alter, Geschlecht und der soziale Status keine Rolle. So war es zum Beispiel im Eleusis-Kult: Hier wurden Frauen und Männer, Freie und Sklaven, Junge und Alte, Griechen und Nicht-Griechen eingeweiht (Bremmer 2014, 2–14). Anders dagegen war es im Mithraskult, hier wurden nur Männer initiiert (Bremmer 2014, 131).
Die Initiation war immer eine private Entscheidung jedes einzelnen Individuums. Die Möglichkeit zur Initiation gab es nicht in jedem Kult zu jeder Zeit. Im Eleusis-Kult zum Beispiel gab es ein einziges Fest im Jahr, bei dem man initiiert werden konnte. Hier wurden gleichzeitig mehrere tausend Menschen initiiert. Im Samothrakischen-Kult dagegen war es das ganze Jahr über möglich, initiiert zu werden (Bremmer 2014, 8–24).

Glaube / Götter

Teil eines jeden Mysterienkultes war eine zentrale Gottheit oder mehrere zentrale Gottheiten. Oft wurde der Kult auch nach diesen Gottheiten benannt, wie zum Beispiel der Mithraskult. Zu jeder Gottheit gehörte auch ein Mythos, der eine zentrale Rolle im Mysterienkult spielte. Der Eleusis-Kult zum Beispiel betete zu Demeter und Kore/Persephone. Ihr zentraler Mythos war der Raub der Persephone durch Hades (Burkert 2003, 61). Die Götter galten als nicht eifersüchtig, deswegen war es normal, mehrere Götter gleichzeitig anzubeten oder auch mehreren Kulten (sowohl öffentlichen Kulten als auch Mysterienkulten) anzugehören (Burkert 2003, 49).

Rituale und Heiligtum

In den Mysterienkulten wurden neben den wichtigen Initiationsritualen noch viele weitere Rituale abgehalten. Diese Rituale beinhalteten oft viele ähnliche Aspekte wie Reinigungen, Opferungen, ein Opfermahl oder eine Prozession (Burkert 2003, 86–92). Um sich von den Ritualen eines öffentlichen Kultes zu unterscheiden, stellten die Mysterienkulte eine intime und persönliche Verbundenheit zur Gottheit her (Bowden 2010, 14–24). Die meisten Rituale waren nur für Mitglieder des Kultes zugänglich. Es gab aber auch Rituale, die auch für Außenstehende zugänglich waren, wie die Initiationsfeier im Eleusis-Kult (Bowden 2010, 33).
Viele Kulte hatten außerdem ein festes dazugehöriges Heiligtum, in dem diese Rituale abgehalten wurden, wie zum Beispiel das Mithraeum im Mithraskult. Es wurde zwischen zwei verschiedenen Arten von Kulten unterschieden: Es gab Mysterienkulte mit einem festen Heiligtum, wie Eleusis, Samothrake oder Mithras. Es gab aber auch sogenannte „wandernde Mysterien“, die nicht an ein festes Heiligtum gebunden waren, wie die Orphisch-Bacchischen-Mysterien. Die Heiligtümer waren meist auch für Nicht-Initiierte zugänglich (Bremmer 2014, XII).

Herkunft der Kulte

In den Augen der Griechen selbst galt Ägypten als Ursprungsland der Mysterienkulte. Dies wurde von Hekataios von Abdera und bei Herodot geschrieben (Burkert 2003, 44). Trotzdem hatten die Kulte mit dem Vorurteil zu kämpfen, sie seien „orientalisch“.
Das klassische Griechenland war stark mit dem Alten Orient verbunden. Durch Eroberungen, Handel, einem Strom von Ost nach West und andere Entwicklungen bestand eine starke Verbindung vor allem zwischen Griechenland, Ägypten, Mesopotamien, Assyrien und Babylon (Burkert 2004, 19). Durch diese Verbindungen wurde viel Wissen, auch über Religion, ausgetauscht und in die einzelnen Länder importiert. Deshalb ist es schwer zu sagen, in wie weit die Mysterienkulte die einzelnen religiösen Praktiken in den verschiedenen Ländern beeinflusst haben.
Das Gleiche gilt für Rom. Dort herrschte ein starker Zuzug unterschiedlicher Kulturen, die die Religionslandschaft stark prägten. Dies macht es schwer zu sagen, in wie weit die Mysterienkulte beeinflusst wurden oder andere Praktiken beeinflusst haben. Es gab gleichzeitig ein starkes Interesse an „exotischen“ Religionen, aber auch den Wunsch, die Tradition zu bewahren (Rüpke 2006, 232).
Die beiden Mysterienkulte, bei denen am meisten diskutiert wird, ob sie aus dem Alten Orient bzw. Ägypten stammen, sind der Mithraskult und der Isiskult.
Der Gott des Mithraskultes, der gleichnamige Mithras, soll angeblich ein indoiranischer Gott gewesen sein (Burkert 2003, 14). Allerdings soll der Gott in der persischen Tradition erst viel später aufgetaucht sein, deswegen ist es doch überzeugender, dass der Kult in Rom gegründet wurde (Bremmer 2014, 126–29).
Beim Isiskult ist allerdings sehr deutlich, dass dieser wirklich aus Ägypten stammte, da Isis eine ägyptische Göttin war. In den Heiligtümern des Kultes gab es außerdem einige Anspielungen auf ägyptischen Einfluss (Bremmer 2014, 125–40).

Mysterienkulte im Alten Orient

Oft wird von „orientalischen Mysterienkulten“ gesprochen. Diese sollen aus dem Alten Orient nach Griechenland und Rom importiert worden sein. Gab es im Alten Orient auch „Mysterienkulte“? Und wie „orientalisch“ sind die „orientalischen Mysterienkulte“ wirklich?

Geheimnisse und Initiierungen im Alten Orient

Die zwei wichtigsten Charakteristika der griechisch-römischen Mysterienkulte haben auch im Alten Orient eine Rolle gespielt. Außerdem soll es dort auch Mysterien gegeben haben. Das Ziel im Alten Orient war es, in das Geheimnis des Kosmos einzudringen, Angstgefühle zu überwinden und das Heimatgefühl zu befriedigen. Dies soll auch der Sinn der altorientalischen Mysterien gewesen sein (Jeremias 2020, 2:35–38). Es ist klar, dass losgelöste Religionsgemeinschaften erschaffen wurden, die das schon lange vorhandene sehnsüchtige Verlangen nach Vereinigung mit den Gottheiten befriedigen sollten.
In alten Texten, wie z.B. dem Gilgamesh-Epos, werden Worte für „das Verborgene“ benutzt („nisirtu“ und „piristu“), die auf Geheimhaltung und Geheimnisse hinweisen. Es wurde außerdem oft von dem „Geheimnis des Himmels und der Erde“ und dem „Geheimnis der Götter“ gesprochen (Jeremias 2020, 2:35–38). Dies deutet darauf hin, dass in den altorientalischen Mysterien also wie in den griechisch-römischen Mysterien Geheimhaltung und Geheimnisse eine große Rolle gespielt haben.
Es werden außerdem „Weisheitshäuser“ erwähnt, in denen man das Geheimnis des Weisheitslehrers erlernen konnte. Der Lehrabschluss dieses Weisheitshauses könnte mit einer Initiierung verglichen werden. Es gab außerdem verschiedene Stufen der Lehrausbildung, also wie in den griechisch-römischen Mysterien verschiedene Stufen der Initiierung. Außerdem wird auch erwähnt, dass Unwissende dieses Wissen nicht erlernen sollten oder durften. Die Initiierung bei diesen Weisheitshäusern war also das Erfahren des kosmischen Geheimnisses und auch des Tod-Leben-Mysteriums zum Zweck der Todesüberwindung, was in den griechisch-römischen Mysterienkulten auch oft eine Rolle bei den Initiierungen spielte (Jeremias 2020, 2:35–38).

Kult der Ischtar

Ein angeblicher Mysterienkult des Alten Orients war der „Kult der Ischtar“. Sie war eine der wichtigsten Göttinnen im Alten Orient und galt als aggressive Göttin des Krieges, der Fruchtbarkeit, aber auch der Liebe. In diesem Kult findet man einige Parallelen zu den griechisch-römischen Mysterienkulten (Parpola 1997, XV).
Der Mythos des Ischtar-Kultes war die Höllenfahrt von Ischtar. Hierbei wurde der Ab- und Wiederaufstieg der Seele dargestellt. Ischtar verließ ihr Zuhause als Königin des Himmels, weil sie auch die Unterwelt regieren möchte. Um dorthin zu gelangen, musste sie sieben Tore passieren, an denen sie jeweils eines ihrer Insignien abgeben musste. In der Unterwelt wurde sie allerdings getötet. Da sie auch die Göttin der Liebe ist, pflanzten sich daraufhin weder Menschen noch Tiere weiter fort und es wurde jemand geschickt, um ihren Körper aus der Unterwelt zu befreien. Dies gelang und sie wurde mit dem Wasser des Lebens wiederbelebt.
Der Kult versprach seinen Anhängern die Erlösung von ihren Sünden, spirituelle Wiedergeburt und Wiederauferstehung vom Tod. Der Kult hatte eine spezielle Kosmogonie, Theosophie und eine „Seelentheorie“, welche von nicht-initiierten Außenstehenden geheim gehalten wurde. Diese Lehren wurden nur an die Initiierten weitergegeben und diese mussten schwören, nichts nach außen hin zu verraten (Parpola 1997, XV).

Ein wichtiger Bestandteil der altorientalischen Religionen waren die Propheten, die für die Kommunikation mit den Göttern zuständig waren. Ischtar sprach ebenfalls durch Propheten zu den Menschen. Diese propagierten die zentralen Lehrsätze des Kultes, darunter vor allem den Weg zur Erlösung und Kritik an der zeitgenössischen Moral. Bei den griechisch-römischen Mysterienkulten, waren es die Priester, die den Kontakt zu den Göttern aufgenommen haben (Parpola 1997, XXVI). Um eine Verbindung mit der Göttin aufbauen zu können, musste man die Göttin und ihre Taten und Gefühle nachahmen. Man musste ihr Leiden und ihre Qualen nachempfinden, welche der Startpunkt ihrer Erlösung waren. Dies wurde erreicht, indem man sich selber Schmerzen zufügte, wie z.B. sich selbst mit spitzen Spindeln zu stechen oder sich selbst mit Messern und Schwertern zu schneiden. Diese Praktiken führten, wenn sie bis zu einem gewissen Erschöpfungszustand durchgeführt wurden, zu paranormalen Zuständen und Erfahrungen (Parpola 1997, XXXIV). Auch in manchen griechisch-römischen Mysterienkulten gehörte es dazu, sich selbst zu verletzen oder auch von anderen verletzt zu werden, wie zum Beispiel im Mithraskult.

Mysterienkulte und das Christentum

Das Christentum gehört heutzutage zu den fünf großen Weltreligionen. Es entwickelte sich bereits in der griechisch-römischen Antike aus dem Judentum. Besonders im Hellenismus gab es diese Entwicklung und es bildeten sich verschiedene Strömungen, die hinterher zum Christentum zählen sollten. Diese Entwicklung fand also gleichzeitig mit den griechisch-römischen Mysterienkulten statt und auch an den gleichen Orten. Gibt es Verbindungen zwischen den Mysterienkulten und dem Christentum? Haben sie miteinander agiert und sich gegenseitig akzeptiert oder herrschte möglicherweise Konkurrenz zwischen ihnen? Wo gibt es Ähnlichkeiten und Unterschieden und haben sie sich gegenseitig beeinflusst? Kann man das Christentum möglicherweise auch als „Mysterienkult“ bezeichnen?

Unterschiede

In der Antike ist „die Religion zum Mysterium geworden“ (Auffarth 2013, 467). Es herrschte eine viel größere Geheimhaltung und Verschwiegenheit, was die Religion betraf. Diesem „Motto“ hat sich das Christentum angeschlossen und sich selbst als Mysterium propagiert. Dabei bezeichnete es sich selbst als „besseres Mysterium“ oder „einzig wahres Mysterium“, was auf einen Konkurrenzkampf zwischen dem Christentum und den Mysterienkulten hindeutet (Auffarth 2013, 467). Das Christentum erhob außerdem Anspruch darauf, die Götter der Römer zu ersetzen und sie bezeichneten andere Götter als „Götzen“ und diejenigen, die an sie glaubten und sie anbeteten als „Heiden“. Aufgrund dieser Verweigerungshaltung und der Intoleranz gegenüber anderen Religionen und Kulten war das Christentum eine nicht integrierbare Religion im römischen Reich und wurde teilweise sogar verfolgt (Ortner 2009, 40). Die Toleranz gegenüber anderen Religionen oder Kulten unterscheidet sich stark zwischen den Mysterienkulten und dem Christentum. Die Mysterienkulte waren sehr tolerant gegenüber anderen Kulten und ihren Göttern. Da sie nur freiwillige und private Kulte waren, war es ganz normal, dass ihre Mitglieder gleichzeitig auch öffentliche Kulte besuchten und zu anderen Göttern beteten. Das Christentum hatte eine andere Ansicht, was andere Götter anging. Es wurden keine anderen Götter geduldet und die Anhänger des Christentums durften nur dieser Religion angehören. Dadurch, dass das Christentum sich selbst als „einzig wahres Mysterium“ propagiert hat, ist klar, dass es die Mysterienkulte nicht toleriert hat (Ortner 2009, 20).

Ein großer Unterschied zwischen dem Christentum und den Mysterienkulten war, dass das Christentum ein öffentlicher Kult war. Es gab pflichtgemäße öffentliche Leistungen, an denen jeder Mensch teilnehmen konnte. Es war keine vom freiwilligen Ermessen abhängige Institution, wie die Mysterienkulte es waren. Die Kirche stand politischen Gebilden, wie dem Reich, näher als Freiwilligkeitsverbänden oder Vereinen (Auffarth 2006, 219). Dadurch war das Christentum seinen Anhängern gegenüber unpersönlicher als die Mysterienkulte es waren. Durch die Initiation musste sich jedes einzelne Mitglied beweisen und wurde ein aktives Mitglied im Kult. Dadurch gab es viel weniger Mitglieder in den Mysterienkulten als im Christentum (Ortner 2009, 9).

Die Mysterienkulte waren Naturreligionen. Sie hatten einen toten Kultheros und materielle Objekte, die sie anbeteten. Das Christentum dagegen ist eine Heils- und Erlösungsreligion und hat das Christusereignis. Es wird ebenfalls ein toter Gott angebetet, welcher aber auferstanden ist (Auffarth 2006, 221). Ein weiterer Unterschied zwischen dem Christentum und den Mysterienkulten ist die Auffassung von Religion und Moral. Während bei den Mysterienkulten die Moral prinzipiell von der Religion getrennt war und die Götter lediglich bei Gelegenheit ersucht wurden, wenn man sie brauchte, gibt es eine untrennbare Symbiose zwischen Moral und Religion im Christentum. Der Gott des Christentums gehört zu allen Aspekten des Lebens und wird bei allen Anliegen ersucht (Ortner 2009, 6). Das tägliche Leben und Arbeiten wird durch den Gott bestimmt, während der Gott des Mysterienkultes nicht so viel Einfluss auf seine Anhänger hatte (Ortner 2009, 10).

In den antiken Mysterienkulten hatte das Amt des Priesters keine bedeutende Rolle und keinen bedeutenden Stand. Es war keine Lebensform, sondern nur ein Neben- oder Ehrenamt (Ortner 2009, 25). Im Christentum dagegen ist das Amt des Priesters etwas Besonderes. Man braucht eine spezielle „Ausbildung“ um dieses Amt innehaben zu dürfen. Für diese Personen ist es dann auch ihre Lebensform. Der Priester hat im Christentum außerdem die Funktion des Seelsorgers, welchen es in der griechisch-römischen Antike nicht gab (Ortner 2009, 337).
Das Christentum glaubt an einen allmächtigen, gigantischen, allwissenden, barmherzigen, liebenden Gott. Dieser steht über den Menschen und ist ihnen wohlwollend. Die antiken Religionen und Kulte, darunter auch die Mysterienkulte, glaubten daran, dass die Götter in der gleichen Welt lebten, wie die Menschen. Sie waren Geschöpfe der Natur, körperliche Wesen und wie die Menschen, weiblich oder männlich (Ortner 2009, 37).

Unterschiede gibt es ebenfalls in der Form des gemeinsamen Mahles. Das gemeinsame Essen und Trinken ist ein symbolisches Geschehen und führt die Gemeinschaft in der religiösen Dimension zusammen (Ortner 2009, 173). Die Mahle in den Mysterienkulten waren fröhliche Feste. Sie bestanden aus üppigen Festgelagen, bei denen oft geopferte Speisen verzehrt wurden. Hierbei wurde die gemeinsame Seligkeit konkretisiert (Ortner 2009, 174). Im Christentum dagegen ist das Essen und Trinken in gemeinsamen Opfer- und Erinnerungsmahlen auf die bloße Symbolik reduziert (Ortner 2009, 175). Im Christentum wird davon gesprochen „von der Gottheit zu Essen“ („Nehmet hin und esset: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird.“). Hierbei wird die Gottheit einverleibt und der Mensch wird der Gottheit selbst teilhaftig. In den Mysterienkulten dagegen hat man mit der Gottheit gegessen (Ortner 2009, 180).
Im Christentum liegt der Schwerpunkt eher auf der Ebene der Sprache und man konzentriert sich auf die Lehre. In den Mysterienkulten lag der Schwerpunkt eher auf dem praktizierenden Teil des Kultes also dem Tun, Sprechen und Zeigen der Rituale und des Mythos (Ortner 2009, 20).
Einer der größten Unterschiede besteht in den Zielen der Mysterienkulte und des Christentums. Die Mysterienkulte versuchten, ihre Inhalte und Lehren geheim zu halten, während das Christentum versucht, seine Inhalte und Lehren zu predigen und zu verbreiten (Auffarth 2013, 454).

Gemeinsamkeiten

Es gibt auch einige Gemeinsamkeiten und Parallelen zwischen dem Christentum und den griechisch-römischen Mysterienkulten, welche die Frage nach dem Christentum als „Mysterienkult“ durchaus berechtigen.

Christliche Glaubensaussagen benutzen bis in die Gegenwart überwiegend Bilder, Metaphern, die Sprache und die Grammatik des Mythos. Diese Deutungen finden in mythologischen Bildern, Denkmodellen und Sprachgrammatiken der hellenistischen Antike statt (Ortner 2009, 2). Dies ist nur logisch, denn das frühe Christentum musste sich den rituellen Formen, religiösen Begriffen und den Bildern und Metaphern der religiösen Sprache seiner Zeit bedienen (Auffarth 2006, 221). In diesem Punkt hat also sehr wahrscheinlich ein Austausch zwischen den Mysterienkulten und dem Christentum stattgefunden.

Eine der größten Gemeinsamkeiten ist, dass es einen Mythos über eine Gottheit mit einem Schicksal gibt, welcher eine besondere Stellung im jeweiligen Kult innehat (Ortner 2009, 9). Im Christentum ist es das Christusereignis, was eine besondere Stellung hat. Im Mithraskult z.B. war es die Stiertötung des Mithras, im Eleusis-Kult der Mythos der Demeter und der Raub der Persephone. Es gibt sowohl im Christentum als auch in den Mysterienkulten eine Art Identifikation mit dem meist leidenden Kultheros (Ortner 2009, 112).
Es gibt bestimmte Sakramente im Christentum, die möglicherweise als Mysterien gelten könnten und diesen sehr ähneln. Darunter fallen z.B. in der katholischen Kirche die Taufe, die Firmung und die Eucharistie (Ortner 2009, 10). Diese sind die drei Sakramente der Eingliederung in die katholische Kirche und könnten mit der Initiation und verschiedenen Initiationsstufen in den Mysterienkulten gleichgesetzt werden. Die Gottesdienste sind meist für alle zugänglich. Der Empfang der Kommunion ist allerdings meist nur den Angehörigen der Kirche erlaubt. Das Eucharistiegebet wird auch oft als „Opfer“ bezeichnet, was natürlich an die Opfer der Mysterienkulte erinnert (Ortner 2009, 178). Zu diesem „Opfer“ gehört natürlich auch das anschließende Gemeinschaftsessen (Auffarth 2006, 214).

Wenn man den Aspekt des Lebens nach dem Tod untersucht, stellt man fest, dass es hier einen Einfluss des Christentums auf die Mysterienkulte gegeben hat. Die Mysterienkulte haben diesen Aspekt nicht großartig beachtet und waren auf das Leben im Diesseits konzentriert. Erst nachdem die Christen ihre Lehren und Gemeinschaftsziele auf die Sorge um die Seele konzentrierten, haben die Mysterienkulte ebenfalls Aspekte zu diesem Thema ausgebildet (Auffarth 2013, 464).

Fazit

Auch nach dem Aufstellen der Charakteristika der griechisch-römischen Mysterienkulte, dem Vergleich mit dem Alten Orient und dem Vergleich mit dem Christentum sind Fragen wie

  • Was macht einen griechisch-römischen Mysterienkult so besonders?
  • Gab es im Alten Orient auch „Mysterienkulte“?
  • Kann man das Christentum auch als „Mysterienkult“ bezeichnen?

immer noch schwierig zu beantworten. Es gibt viele Argumente, die jeweils dafür und dagegen sprechen.

Für die griechisch-römischen Mysterienkulte ist eindeutig zu sagen, dass sie ein einzigartiges Phänomen der griechisch-römischen Religionsgeschichte waren. Die herausgearbeiteten Charakteristika sind alle im Einzelnen sehr wichtig und machen diese Kulte so besonders. Ein wichtiger Punkt ist dabei aber auch das Gesamtbild und das Zusammenspiel dieser Charakteristika. Ein weiterer wichtiger Punkt, der dazu beigetragen hat, dass die Mysterienkulte zu so etwas besonderem wurden, war der Kontakt zum Alten Orient und zum Christentum. Ob die „orientalischen Mysterienkulte“ nun aus dem Alten Orient importiert wurden oder nicht, einen Kulturaustausch gab es trotzdem und einige Aspekte wurden gegenseitig beeinflusst.

Die parallele Existenz hat automatisch für eine Verbindung und einen Austausch gesorgt. Trotz Verbindung und Austausch gab es keine richtigen „Mysterienkulte“ nach griechisch-römischem Modell im Alten Orient. Einige einzelne der aufgestellten Charakteristika der griechisch-römischen Mysterienkulte sind dort zu finden, allerdings nicht in dem Zusammenhang und Zusammenspiel, wie es bei den Mysterienkulten war. Die Geheimhaltung, das größte und wichtigste Charakteristikum der griechisch-römischen Mysterienkulte, hat im Alten Orient auch eine Rolle gespielt. Die Kommunikation der Menschen mit den Göttern war ein zentraler Punkt in der altorientalischen Gesellschaft. Die „Weisheitshäuser“ und ihre Lehren könnten mit der Initiation und Initiationsstufen verglichen werden und die Wahrsager könnten mit den Priestern verglichen werden. Der Kult der Ischtar ist das, was am ehesten als „Mysterienkult“ bezeichnet werden könnte. Es gab eine zentrale Gottheit mit einem zentralen Mythos und man musste initiiert sein, um die Geheimnisse des Kultes erfahren zu dürfen. Außerdem spielte die Erlösung und die Wiedergeburt eine Rolle im Kult. Diese Punkte sind alle vergleichbar mit den Mysterienkulten und zeigen vereinzelte Parallelen. Doch wenn man das Gesamtbild betrachtet, reichen diese Punkte nicht aus, um den Kult der Ischtar oder andere Kulte des Alten Orients als „Mysterienkulte“ zu bezeichnen, da viele andere kleinere Charakteristika fehlen und die Verbindungen zwischen den einzelnen Charakteristika auch fehlen.

Ähnlich sieht es mit dem Christentum aus. Es gibt einige Punkte, die für das Christentum als „Mysterienkult“ sprechen. Die drei Grundstrukturen und wichtigsten Charakteristika der Mysterienkulte: Geheimhaltung, Initiationspraxis und Wiedergeburt bzw. Erlösung aus dieser Welt in ein besseres Jenseits (Auffarth 2013, 467) findet man fast alle auch im Christentum. Dort könnte man z.B. in der Taufe eine Art Initiation sehen und mit der Fortführung durch die Firmung und die Eucharistie verschiedene Initiationsstufen. Auch der Glaube an die Wiedergeburt und die Erlösung sind zentral im Christentum. Alleine die Geheimhaltung ist ein Aspekt, der nicht zum Christentum passt. Es gibt die zentrale Gottheit mit dem zentralen Mythos. Das Gemeinschaftsessen spielt eine große Rolle im Christentum und damit auch der Kontakt der Menschheit mit dem Gott.

Doch es gibt auch einige ausschlaggebende Aspekte, die gegen das Christentum als „Mysterienkult“ sprechen. Es gab Konkurrenz zwischen beiden, da das Christentum sich als „einzig wahres Mysterium“ darstellen wollte. Allerdings wurden wahrscheinlich auch einige Aspekte voneinander übernommen. Das Christentum ist ein öffentlicher Kult und erlaubt es nicht, dass seine Mitglieder an anderen Kulten teilnehmen. Das Christentum ist eine Heils- und Erlösungsreligion, damit spielen Sünden im Diesseits und die Konsequenzen im Jenseits eine große Rolle. Die Verbindung von Religion und Moral ist sehr stark, da die Religion in jeden Aspekt des Alltags der Christen gehört und ihr Gott für alles zuständig ist. Außerdem ist es das Ziel des Christentums seine Lehren zu verbreiten und nicht geheim zu halten. Wie der Religionswissenschaftler Christoph Auffarth sagt: „Das Christentum hat nichts kopiert, nichts wörtlich entlehnt, wohl aber hat es sich den Mysterien angeglichen. Und dabei sie übertroffen“ (Auffarth 2013, 214). Dies zeigt die Verbindung zwischen beiden, das Ziel des Christentums, das „einzig wahre Mysterium“ zu sein und verdeutlicht, dass „Angleichen“ nicht gleich „Kopieren“ und somit das Christentum auch kein „Mysterienkult“ ist.

Alleine der Begriff „Mysterienkult“, der eines der wichtigsten Charakteristika beschreibt, die Geheimhaltung und die damit einher kommenden Mysterien und Geheimnisse, sollte schon aussagen, dass das Christentum nicht dazu zählt, da es seine Lehren offen predigt und verbreitet. Diese Punkte, die gegen das Christentum als „Mysterienkult“ sprechen, sind ausschlaggebend. Außerdem ist es auch hier, wie im Alten Orient, dass einzelne Charakteristika nicht ausreichen, um das Christentum als „Mysterienkult“ bezeichnen zu können.

Literaturverzeichnis

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