KULTUR

Russkoje Ustje ist ein eigentuemliches "Schongebiet" fuer altertuemliche russische Kultur. Da die Bewohner im Laufe der Jahrhunderte vom uebrigen Russland weitgehend abgeschnitten waren, konnten sich archaische Besonderheiten ihrer Sprache sowie alte Lieder, Maerchen und Braeuche lange Zeit erhalten. Dies fiel auch jenen auf, die es aus irgendeinem Grunde an die Muendung der Indigirka verschlug. Erste folkloristische Aufzeichnungen stammen aus den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Sie wurden von I.A. Chudjakow, einem nach Werchojansk verbannten Folkloristen, angefertigt. Auch V.M. Sensinow, der 1912 als Verbannter in Russkoje Ustje lebte, beschaeftigte sich mit dem Brauchtum und den Lebensgewohnheiten der Menschen an der Indigirka und zeichnete ihre Lieder auf.


Irina Platonowna bewirtet ihre Gaeste mit jurmak (in Scheiben geschnittenem Fisch)

Von besonderem Wert ist seine Beschreibung des Hochzeitsbrauches. Hochzeiten wurden in Russkoje Ustje nur einmal im Jahr, naemlich in der grossen Fastenzeit vor Ostern, gefeiert. Dann naemlich kam fuer kurze Zeit ein Priester aus Werchojansk in den Ort. Diese Beschraenkung erklaert, weshalb die Brautleute oftmals schon vor der Trauung laengere Zeit zusammenlebten; ihre gemeinsame Zukunft musste aber vorher durch den vaeterliche Handschlag besiegelt worden sein.

In den 20er bis 40er Jahren des 20.Jh. weilten mehrere Expeditionen in Russkoje Ustje. Ihre Ergebnisberichte befinden sich heute in russischen Archiven; veroeffentlicht wurden sie zumeist nicht. Weitere wichtige Expeditionen fuehrten in den 60er und vor allem 70er Jahren an die Indigirka. Im Ergebnis dieser Arbeiten wurde 1986 eine Monografie zur "Folklore von Russkoje Ustje" unter der Redaktion S.N. Asbelew und N.A. Meschtscherski veroeffentlicht.

Wie in der übrigen russischen Folklore sind Maerchen, Sagen, Bylinen, Lieder (z.B. Balladen, historische und lyrische Lieder, Brauchtumslieder), Raetsel, Sprichwoerter und Tschastuschki (Spottreime) ueberliefert. Aber es gibt eine Reihe Besonderheiten: Relativ schwach verwurzelt, so Asbelew, ist das mit dem baeuerlichen Leben verknuepfte Jahreszeiten-Brauchtum (kalendarny folklor). Auch die nordrussische Tradition des Klagegesanges waehrend der Hochzeitszeremonie konnte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr belegt werden, obwohl andere Bestandteile des Rituals bis in die 40er Jahre befolgt wurden.

Viele der Maerchen, die in Russkoje Ustje erzaehlt wurden und werden, weisen aehnlichkeiten mit den Maerchen des europaeischen russischen Nordens auf; einige Sujets wiederum wurden nur hier aufgezeichnet. Obwohl man sich auch jakutische, jukagirische und ewenkische Maerchen erzaehlt, wird der Einfluss dieser Maerchen auf die russische Folklore als eher gering eingeschaetzt. In Russkoje Ustje sind auch folkloristische Bearbeitungen literarischer Quellen ueberliefert - angefangen von altrussischen Texte ueber die Maerchen Puschkins bis hin zu arabischen Maerchen. Gemeinhin wird dies als Zeugnis der Bildung frueherer Generationen angesehen.

Wohl bis heute populaer sind die Tschastuschki. Wie eine Ortszeitung reflektieren sie das Leben der Einwohner von Russkoje Ustje. Sie sind stark satirisch und lassen Improvisationen zu. Ein Beispiel:

òÕÓÓËÏÕÓÔØÉÎÓËÉ ÒÅÂÑÔÁ
÷ ËÕÒÔÏÞËÁÈ ÄÁ × ÛÁÐÏÞËÁÈ,
÷ÛÅ ËÏÒÏÔËÉÈ ÐÉÄÖÁÞËÁÈ
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Heutzutage sind die traditionellen Volksbraeuche beinahe vergessen; eine Ausnahme bilden die nach wie vor gepflegten Taenze "Rossucha" und "Omukkanowo".

Kristina Kuehne, Marion Krause