KULTUR

Unter der Regierung von Zar Aleksej Michailowitsch (1629-1676) kam es zu einer Überprüfung der kirchlichen Texte und Kultpraktiken, bei der große Abweichungen von den griechisch-orthodoxen Vorbildern festgestellt wurden. Ein Gremium aus wichtigen Kirchenmännern, unter ihnen die späteren Antipoden Nikon und Awwakum, sollte eine offizielle Festlegung für die kursierenden, unterschiedlichen Lesarten des kirchlichen Schrifttums treffen. Ihre Reformbewegung "Eiferer der Frömmigkeit" hatte die Erneuerung der Kirche, das Entfernen laxer Sitten aus dem Ritual und die Bekämpfung des Doppelglaubens auf dem Land zum Ziel. Nachdem Nikon 1652 zum Patriarchen gewählt worden war, führte er die Reformen streng nach griechisch-orthodoxem Vorbild durch, was viele seiner früheren Mitstreiter entrüstete.


Krasnyj ugolok in einer Wohnung von Altgläubigen

Seine Kirchenreform spaltete (daher der Name "raskol") die russisch-orthodoxe Kirche in eine offizielle Staatskirche und in die Gruppe der "Altgläubigen" (starowery oder staroobrjadzy = Altritualisten) unter der Führung des Protopopen Awwakum. Die Altgläubigen wandten sich nicht grundsätzlich gegen die Revision der Kirchenbücher, sondern dagegen, daß diese auf der Basis später griechischer Texte durchgeführt wurde. Ihre Hauptkritik galt der Zurückdrängung der nationalkirchlichen Tradition zugunsten des byzantinischen Vorbildes.

Die wichtigsten Änderungen der Nikonschen Kultusreform (Hauptmann 1963, S.86f.) waren:
- Textrevision der Kultusbücher: mit den Psaltern wurde z.B. der Teil der Bibel, der den
  Russen am vertrautesten war, verändert
- Dreifinger- statt Zweifingerkreuz : der wichtigste Punkt für Awwakum
- Dreifaches statt zweifaches Halleluja
- Schreibung Iisus statt Isus
- Vier statt siebzehn Metanien (Kniefälle)
- Fünfzahl der Prosphoren (Abendmahlsbrote) statt der Siebenzahl
- Prozession gegen den Lauf statt wie bisher mit dem Lauf der Sonne
- Vierendiges (griechisches) statt achtendiges Kreuz

Die vehemente Ablehnung der Reformen brachte die Altgläubigen in Opposition zur Staatskirche und Staatsgewalt. Durch die Kirchensynode von 1666/7 wurden alle Anhänger des alten Ritus exkommuniziert und verdammt. Vor den Verfolgungen flüchteten die Altgläubigen in die unwegsamsten Gebiete des Landes. In eschatologischer Erwartung - in ihren Augen konnte ein Zar, der solche Reformen zuließ, nur der Antichrist sein - kam es zu Massenselbstmorden, besonders Massenverbrennungen.

Da es unter den Altgläubigen keine Bischöfe gab, die die Priesterweihen vornehmen konnten, gab es im Lauf der Zeit eine Spaltung innerhalb des Altgläubigentums in Gruppen, die die Geistlichkeit beibehielten (popowzy) und in die Popenlosen (bespopowzy). Diese Gruppierungen hielten sich trotz Verfolgung und unzähliger Repressalien bis in die heutige Zeit. In der Sowjetunion schätzte man 1987 ca. 2,5 Millionen Altgläubige. Weitere Gemeinden finden sich in Polen, Rumänien, USA, Kanada.

Zusammenfassend kann man sagen, das die Kirchenspaltung die tiefste Krise der russisch-orthodoxen Kirche auslöste und gleichzeitig den gesellschaftlichen Umbruch jener Zeit widerspiegelte. Der Raskol leitete die Auseinandersetzung zwischen pro- und antiwestlich gesinnten Kräften in der russischen Geistesgeschichte ein.

Regina Kraus