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1     Wozu braucht man Morphologie und Systematik?

1.1       Eine historische Betrachtung

1.2       Die Art als Fundament der Systematik?

1.3       Das Maß für Verwandtschaft

1.4       Stammbaumdarstellungen


 

1 Wozu braucht man Morphologie und Systematik?

 

1.1 Eine historische Betrachtung

 

Auf der Basis eines Systems der Organismen, das die Phylogenie zutreffend wiederspiegelt, lassen sich vielfach zutreffende Vorurteile über einzelne Organismen bilden. Es gibt unter anständigen Menschen einen unausgesprochenen Konsens, daß Vorurteile etwas negatives sind. Biologisch gesehen ist das völlig abwegig. Es ist ein entscheidender Selektionsvorteil, aufgrund von unvollständigen Daten möglichst rasch ein möglichst zutreffendes Vorurteil zu bilden. Wir sind es heute nicht mehr gewohnt, nach solchen Vorurteilen handeln zu müssen. Wenn man aber die Reiseberichte der Entdeckungsreisenden der Kolonialzeit liest, fallen die gehobenen Ansprüche an die Vorurteilsfähigkeit der mitreisenden Naturwissenschaftler sofort auf. Im Tagebuch von Georg Forster, einem gut 20jährigen, der Kapitän Cook auf seiner 2. Weltumsegelung begleitete, lesen wir zur Entdeckung von Neukaledonien    z.B.: "Wir suchten Ihnen begreiflich zu machen, daß es uns an Nahrungsmitteln fehle, doch sie waren gegen alle Winke dieser Art taub, weil sie augenscheinlich für sich selbst nicht genug hatten.", und eine Seite weiter dann: "Wir waren noch nicht lange an Bord zurück, da ließ der Schreiber des Kapitäns einen Fisch schicken, den die Insulaner soeben mit einem Speer geschossen hatten. Da es eine neue Art war, machte ich mich sofort daran, ihn zu beschreiben und zu zeichnen. Er gehörte zu der Gruppe von Fischen, wovon verschiedene Arten für giftig gehalten werden. Wir ließen dies den Kapitän wissen.... Der Kapitän behauptete aber, er habe eben diese Art an der Küste von Neu_Holland ohne allen Schaden gegessen. Wir freuten uns also schon, am nächsten Tag eine frische Malzeit zu bekommen und setzten uns abends zu Tisch, um die Leber zu verzehren. Sie war aber von so öligem Geschmack, daß der Kapitän, mein Vater und ich nur ein paar Bissen davon aßen. Gegen drei Uhr morgens wurde mein Vater durch eine sehr unbehagliche Empfindung aus dem Schlaf geweckt. Hände und Füße waren wie erstarrt, und als er aufstehen wollte, konnte er sich kaum auf den Füßen halten. Auch Kapitän Cook wachte, konnte aber nicht stehen, ohne sich festzuhalten. Mein Vater kam an mein Bett, ermunterte mich mit Gewalt, und nun fühlte ich erst, wie übel es mir war. Wir schleppten uns in die Kajüte und ließen unseren Wundarzt Patton holen."

 

Man konnte damals eben nicht wie der heutige Pauschaltourist einfach vorsichtshalber vor allem Angst haben, eine internationale Fast_Food Kette aufsuchen und Cola aus der Dose trinken. Wenn die Entscheidung anstand, ob gewisse Früchte essbar sind oder nicht, bedeutete "auf Nummer sicher gehen" Skorbut und damit Dezimierung der Mannschaft. Der mit dem besten Vorurteil hat hier die größten Chancen. Das bedeutet natürlich auch, daß man alle zusätzlichen Daten nutzt, um seine Vorurteile nachzubessern.

 

Das Ereignis mit dem giftigen Fisch fand 1775 statt und damit rund 80 Jahre bevor Darwin seine "Entstehung der Arten..." publizierte. Die Systematik ist also älter als die Evolutionstheorie und ohne sie nicht nur vorstellbar, sondern sogar nützlich und notwendig.  Sie kann künstliche und natürliche Systemen hervorbringen. Man hat sich heute allgemein daran gewöhnt, das Linné'sche Sexualsystem [1] als das künstliche System par excellence zu betrachten. Eine Gliederung nach der Anzahl von Staubblättern und Karpellen alleine ist in der Tat nichts besonders natürliches, Zwetschge, Apfel, Weißdorn und Erdbeere kommen an ganz verschiedenen Stellen eines solchen Systems heraus, während sie im natürlichen System zusammen in der Familie der Rosengewächse stehen. Es ist aber falsch, dieses System nur deshalb als künstlich zu bezeichnen, weil wir meinen, es heute besser zu wissen. Die Stellung der Pfingstrosen bei den Hahnenfüßen hat sich als falsch herausgestellt, die Iridaceae stehen nach neuerer Auffassung viel näher bei den Liliaceae als bei den Amaryllidaceae. Das System von Adolf Engler, das wir selbstverständlich als natürliches System bezeichnen, ist an manchen Stellen sicher unnatürlich und auch das System im neuen Strasburger wird nicht das letzte "natürliche" System sein. Andererseits waren manche Gruppen im Sexualsystem von Linné schon so, wie sie heute noch sind, also eigentlich sehr natürlich. Was Linné's System zum künstlichen System macht, ist die Tatsache, daß er es als künstliches System beabsichtigte. Er wollte die Fülle nicht natürlich, sondern schnell und praktisch ordnen. Es ging darum, die in dieser Zeit immens anwachsenden Sammlungen schnell so zu ordnen, daß einzelne Dinge wiederauffindbar waren. Daß dieses System von Linné als künstliches System angelegt war, geht am einfachsten daraus hervor, daß sich Linné selbst an einem natürlichen System versucht hat. In diesem System (Abb. 2) gibt es einige Ordnungen, die wir in manchem modernem System noch in ähnlicher Umgrenzung finden, z.B. die Personatae, die heute Scrophulariales heißen, oder die Parietales, heute besser bekannt als Violales. Das natürliche System von Linné hat in manchem, vor allem auch in der Darstellungsweise, eine erstaunliche Ähnlichkeit zum System von Pulle, das in leicht veränderter Form bei Weberling & Schwantes (1994) zu sehen ist (Abb. 2). Künstlich ist das Sexualsystem wegen seiner Zielsetzung, nicht wegen des Resultates. Künstliche Systeme haben auch heute noch eine wichtige Bedeutung. Jeder Bestimmungsschlüssel repräsentiert im Grunde ein künstliches System. In einer Systematik_Vorlesung soll aber nach allgemeiner Auffassung die neueste bzw. beste Ansicht über das natürliche System im Vordergrund stehen.

Warum haben wir nun so ein Interesse am natürlichen System, obwohl eigentlich jedem klar ist, daß das ein letztlich unerreichbares Fernziel ist und selbst als gesichert angesehene Teile manchmal durch neue Fakten wieder umgestoßen werden können. Zunächst einmal ist die Tatsache, daß man damit rechnen muß, daß ein System wieder verworfen werden muß, für den Systematiker etwas erfreuliches. Nicht weil das ein unerschöpfliches Reservoir an Themen für Diplom_ und Doktorarbeiten bedeutet, oder weil es einem vielleicht die Genugtuung verschafft, den eigenen Lehrer zu widerlegen, sondern weil die prinzipielle Falsifizierbarkeit beweist, daß Systematik eine Naturwissenschaft ist. Das natürliche System ist aus verschiedenen Gründen ein erstrebenswertes Ziel. Nach dem Motto "ein Apfel fällt nicht weit vom Stamm" rechnen wir bei verwandten Taxa mit Übereinstimmungen, die über das hinausgehen, was wir schon durch Untersuchungen belegt haben. Die Kenntnis der Verwandtschaft macht also Vorurteile über nicht untersuchte Eigenschaften sicherer, d.h. die Trefferquote ist besser als wenn man nur raten kann.

 

Neben dem Endzustand der Evolution, den heute existierenden Taxa, ist jedoch der Prozeß der Evolution selbst von Interesse. Wir wissen, daß sich im Verlauf der Evolution die Rahmenbedingungen mehrfach dramatisch geändert haben. Wo heute Regenwälder sind, waren Wüsten oder eisbedeckte Polargebiete und umgekehrt. Durch Änderungen der Umweltbedingungen wurde die Selektionsrichtung manchmal mehrfach geändert. Die Kenntnis dessen, was als historischer Ballast aus der Evolution mitgeschleppt wird und was heute von Selektionswert ist, ist entscheidend für die Beurteilung des künftigen Evolutionsverlaufs, also für Ökoszenarien wie wir sie im Umweltschutz einsetzen. Wir sind heute bei Prognosen über den zukünftigen Verlauf der Evolution ungefähr so gut wie bei langfristigen Wettervorhersagen. Aber gerade da, wo sich Systematik, Pflanzengeographie und Ökologie berühren, ist schon einiges geleistet worden und auch noch zu erwarten.

 

Wir müssen umgekehrt zugeben, daß wir an vielen Stellen über eine reine Klassifikation, d.h. eine recht künstliche Gliederung, noch nicht hinausgekommen sind. Es wird also im folgenden nicht nur darum gehen können, das modernste verfügbare System vorzustellen, sondern auch und vor allem darum, die Kritikfähigkeit gegenüber dem zu schulen, was da verkauft wird. Kritikfähigkeit heißt dabei nicht, der Sache möglichst reserviert gegenüberzustehen, sondern den maximal möglichen Nutzen aus dem systematischen Lehrgebäude zu ziehen und falsche Schlüsse zu vermeiden.

1.2 Die Art als Fundament der Systematik?

Ganz an der Basis, sozusagen als Fundament, steht das Artkonzept oder der Artbegriff. Wir gehen damit recht selbstverständlich um, ohne uns über die vorhandenen Probleme recht klar zu werden. Eine weitverbreitete Definition der Art sieht so aus, daß man untereinander reproduktionsfähige Individuen zu einer Art zusammenfaßt. Das ist problematisch, denn alle Arten der Gattung Akelei können z.B.  problemlos miteinander gekreuzt werden und auch die F1 ist genauso fertil. Sollen nun Aquilegia vulgaris, A. atrata, A. alpina und A. formosana, die in der Natur nie zusammen vorkommen, nur deswegen zu einer Art zusammengefaßt werden, weil sie sich im Experiment problemlos kreuzen lassen? Warum sollen eigentlich Sippen oder Populationen, die nie miteinander in Kontakt geraten, Kreuzungsbarrieren entwickeln? Kreuzungsexperimente mit nahe verwandten Arten haben gezeigt, daß sich solche Kreuzungsbarrieren bei Sippen, die das gleiche Areal besiedeln, rascher und deutlicher entwickeln, als bei Sippen, die nie miteinander in Kontakt geraten. Man kann die Kreuzungsdefinition nun einfach ergänzen und die Art als Gruppe von Individuen oder Populationen definieren, zwischen denen eine fruchtbare Kreuzung nicht nur potentiell möglich ist, sondern auch tatsächlich stattfindet. Damit kann man Problemen, die bei Entenarten auftreten, sehr schön gerecht werden. Es gibt nämlich Entenarten, die technisch problemlos kreuzbar wären. Allein das Paarungsverhalten paßt nicht zueinander, die Tiere verstehen sich nicht, und aus dem Verhalten ergibt sich eine zuverlässige Artabgrenzung. Benutzt man geographische oder verhaltensmäßige Barrieren zur Artdefinition, so kann das zu seltsamen Anachronismen führen.    Die amerikanischen Ureinwohner wären z.B. bis zur Entdeckung Amerikas eine eigene Art gewesen wären, denn eine Kreuzung ist vorher nicht vorgekommen. Auch wären manche Sippen von Bayern als eigene Art anzusprechen, da sie sich freiwillig nie mit einem Preußen verpaaren würden, dabei sind solche Sippen und Individuen vielleicht eigenartig, aber nach allgemeinem Verständnis keine eigene Art. Den Bayern mit einer hübschen Preußin auf eine Insel zu verbannen, um das Artkonzept zu testen, wäre im übrigen ein unzureichender Test. Der Grauwolf und der Kojote sind sicher verschiedene Arten, und doch kommen offenbar fertile Kreuzungen vor, nämlich der nordamerikanische Rotwolf.    Auch Pferd und Esel paaren sich freiwillig, wenn sie denn gar keine andere Möglichkeit haben [2] , glücklicherweise sind Maultier und Maulesel nicht fertil und stellen so kein Problem für die Artdefinition dar.

 

Schließlich sind wir alle der Meinung, daß Arten durch Aufspaltung oder Abspaltung von anderen Arten im Lauf der Evolution entstehen können. Niemand hat aber versucht, festzulegen, wie lange zwei solche Linien voneinander getrennt sein müssen, damit es selbständige Arten sein dürfen.

 

In der Praxis geht man meist so vor, daß man gleich aussehende Organismen zu einer Art zusammenfaßt. Oft kennt man ja nicht sehr viele Individuen von einer Art und über die Reproduktionsbiologie weiß man vielfach nichts und könnte deswegen einen auf Kreuzbarkeit aufgebauten Artbegriff nicht anwenden. Ein Beispiel für einen solchen Fall ist der Urvogel Archaeopteris. Das gleiche gilt aber für viele rezente höhere Pflanzen, die bisher nur ein einziges Mal gefunden wurden. Daß Männchen und Weibchen einer Art zunächst als verschiedene Arten, manchmal sogar in verschiedenen systematischen Gruppen beschrieben waren, ist gar nicht so selten, Beispiele gibt es in der Zoologie und in der Botanik. Um Mitteilungen über solche Funde machen zu können, muß man ihnen einen Namen geben. Der Name ist der Schlüssel, über den man in einer Literaturrecherche an das bekannte Wissen über das, was wir so "Art" nennen, herankommen kann. Der Artbegriff hat also auch eine rein administrativ instrumentelle Komponente.

 

Es gibt also keine allgemein brauchbare und immer funktionierende Definition für eine Art [3] . Die Art muß als heuristisches Konzept betrachtet werden, und je nach Problemlage und Wissensstand muß mit der Anwendung verschiedener Konzepte gerechnet werden. Der Systematiker Richard von Wettstein hat die Art einmal so definiert: "Eine Art ist, was ein maßgeblicher Systematiker als solche bezeichnet". Das klingt zunächst überheblich, man darf jedoch nicht übersehen, daß kein Systematiker seine Maßgeblichkeit selbst festlegen kann. Er wird von anderen, die lieber selber maßgeblich wären, als maßgeblich eingestuft. So ist das Verfahren also in einem gewissen Sinn demokratisch, demokratisch mit allen Problemen, wenn zur Wahrheitsfindung eine Mehrheitsfindung eingesetzt werden muß.    Damit soll nicht verunsichert werden, aber es erscheint doch wichtig, sich darüber im klaren zu sein, wie unterschiedlich die Festigkeit des Bodens ist, auf dem wir uns in der Systematik bewegen, und wie dünn er unter Umständen sein kann.

     

1.3 Das Maß für Verwandtschaft

 

Wie soll evolutive Verwandtschaft, wie sie im natürlichen System zum Ausdruck kommen soll, gemessen werden? Sind zwei Taxa näher miteinander verwandt als mit einem dritten, wenn

1. weniger Generationen seit dem letzen gemeinsamen Vorfahren verstrichen sind?

2. weniger Zeit seit dem letzten gemeinsamen Vorfahren verstrichen ist?

3. mehr äußerliche (phänetische) Ähnlichkeit besteht?

4. mehr genetische Ähnlichkeit besteht?

 

Man ist normalerweise versucht wenigstens bei den Punkten 3 und 4 eine eindeutige Entscheidung zugunsten der Genetik zu fällen. Auch das ist nicht immer richtig. Wenn genetische Ähnlichkeit in der Systematik verwendet wird, dann nicht rein quantitativ sondern qualitativ. Es wird nach wesentlichen genetischen Ähnlichkeiten gesucht, die sich nur durch gemeinsame Abstammung erklären lassen. Innerhalb solcher als wesentlich betrachteter Bereiche wird dann ein quantitativer Vergleich angestellt und nicht etwa allgemein über das ganze Genom. Die Erfahrung in der eigenen Familie zeigt, daß es z.B. durchaus möglich ist, daß eine Tochter ihrer Großmama genetisch ähnlicher ist als ihrem Vater. Ist sie aber deswegen mit ihrer Großmutter näher verwandt als mit ihrem Vater? Bei nur drei Generationen erscheint die Frage vielleicht etwas läppisch. Aber es genügt, um zu zeigen, daß es Fälle geben kann, wo die allgemeine genetische Ähnlichkeit nicht das Maß aller Dinge sein kann.

 

Die phänetische Ähnlichkeit ist zwar das schlechteste von allen Argumenten, denn wir wissen, wie sehr durch Konvergenzen phänetische Ähnlichkeiten entstehen können, die ganz im Gegensatz zu den historischen, stammesgeschichtlichen Verhältnissen stehen. Leider beruht immer noch ein großer Teil der Systematik auf phänetischer Ähnlichkeit. Das ist überall dort der Fall, wo morphologische Merkmale verwendet werden, ohne daß man über deren Funktion und Evolution etwas weiß.

   

1.4 Stammbaumdarstellungen

 

Stammbäume  können ganz verschieden aussehen. Durch geeignete graphische Gestaltung kann man darstellen, wie stark zwei rezente Taxa voneinander verschieden sind (phänetische Distanz, Maß für die allgemeine Ähnlichkeit, auf unterschiedliche Weise aus der Anzahl der übereinstimmenden und unterschiedlichen Merkmalen berechnet), wie stark sich ein Taxon von dem Taxon unterscheidet, aus dem es in der Phylogenie entstanden ist (patristische Distanz, gemessen als Anzahl verschiedener Merkmale) oder wie lange die Trennung von diesem Ausgangstaxon zurückliegt (chronistische Distanz, gemessen als absolute Zeit oder Anzahl von verstrichenen Generationen) oder man kann sich ganz auf das Verzweigungsmuster beschränken (kladistische Distanz, Anzahl der Verzweigungen bis zum anderen Taxon). Ein besonders baumförmiges Beispiel ist ein Stammbaum von Ernst Haeckel ( Abb. 1). Diese Darstellung ist sicher nicht chronistisch (d.h. die zeitlichen Abläufe richtig wiedergebend), denn man kann keine Zeitachse in die Darstellung einfügen. Man kann der Darstellung aber sicher kladistische (d.h. die Verzweigungen betreffende) Information entnehmen, denn man kann alle Verzweigun gen studieren. Es ging Haeckel aber sicher um mehr als eine nur kladistische Darstellung, denn er hat angedeutet, daß er an der Basis der Kormophyten ein Stück Stamm weggelasen hat.

 

Die andere Darstellung (Abb. 1) enthält kladistische und chronistische Information und ist in ihrer Aussage viel präziser. Auffallenderweise ist diese Darstellungsform älter als die Haeckel'sche und geht auf den Botaniker und Paläontologen Louis Agassiz zurück.

Ein Stammbaum liefert zwar eine anschauliche Genealogie, aber er liefert keine hierarchische Klassifikation. Man kann von einem einzigen Stammbaum zu verschiedenen Klassifikationen und von verschiedenen Stammbäumen zur selben Klassifikation kommen. Verschiedene Stammbäume repräsentieren nicht unbedingt verschiedene systematische Ansichten und übereinstimmende Anordnung von Taxa in Lehrbüchern ist nicht unbedingt ein Ausdruck übereinstimmender Lehrmeinung. Beim Vergleich unterschiedlicher Systeme sollte man daher immer versuchen, den Stammbaum zu verstehen, der einer Klassifikation zugrunde liegt.

Wenn man von Stammbäumen oder Dendrogrammen spricht, meint man damit meist Aufrisse, also Seitenansichten des Stammbaumes, die alle Verzweigungen zeigen. Eine andere verbreitete Technik ist, quasi einen Querschnitt durch den Stammbaum im Bereich der Krone abzubilden. Die älteste Darstellung dieser Art geht auf Linné zurück (Abb. 2), das von Pulle entworfene (Abb. 2) System entspricht diesem weitgehend. Eine moderne Version solcher "Bubble_Systeme" stellt das Dahlgrenogramm dar (Abb.37 S.121).

 

Eine der wichtigsten Stammbaumdarstellungen ist das Kladogramm. Das Kladogramm ist das Dendrogramm (die Stammbaumdarstellung) der Schule, die nur Verzweigungen anschaut und sich für den Rest nicht interessiert. Diese Methodik wird Kladistik genannt und geht auf den deutschen Zoologen Willi Hennig [4] zurück. Sein Lehrbuch "Phylogenetic Systematics" ( HENNIG 1966 ) war vor allem in Amerika ein großer Erfolg, während die deutsche Ausgabe (Phylogenetische Systematik) erst 1982 posthum veröffentlicht wurde. Die Teile seines Konzeptes, die sich für eine automatisierte Auswertung von Verwandtschaftsbeziehungen besonders eigneten, wurden unter der (von Gegnern als Schimpfwort eingeführten) Bezeichnung "Kladistik" formalisiert und in Computerprogramme umgesetzt.

 

Das Konzept und die spezielle Terminologie läßt sich am einfachsten an der typischen Stammbaumdarstellung  (Dendrogramm) der Kladistik, dem Kladogramm erläutern (Abb. 38, 39 ). Die Taxa, deren Verwandtschaftsbeziehungen untersucht werden sollen, stehen alle an Zweigenden des Kladogramms. Diese terminalen Taxa werden als OTU's (operational taxonomic units) bezeichnet. Die Knoten (in den Kladogrammen von 1 bis 3 durchnumeriert) stellen ausgestorbene Vorfahren der OTU's dar und werden als HTU's (hypothetical taxonomic units) bezeichnet. Dem kladistischen Konzept liegt der sogenannte "evolutionäre Artbegriff" zugrunde. Dabei wird definiert, daß eine evolutionäre Art genau von ihrer Entstehung bis zu ihrer Aufspaltung in zwei (oder mehr) Tochterarten existiert. Mit der Aufspaltung in Tochterarten gilt die evolutionäre Art als erloschen, selbst wenn eine der Tochterarten mit der Ausgangsart vollkommen übereinstimmt.

 

Der zweite wichtige Ansatz der Kladistik ist eine weitere Differenzierung der Homologie. Die wesentliche Feststellung ist dabei, daß bei Homologien sorgfältig zwischen ursprünglichen und abgeleiteten Merkmalen (Merkmalszuständen [5] ) unterschieden werden muß, da die einen für die Frage einer bestimmten Verwandtschaftsbeziehung eine Rolle spielen können, die anderen hingegen nicht.

Für die Rekonstruktion der Verwandtschaftsverhältnisse sind nur homologe Merkmale brauchbar, und aus diesen nur solche, die zwei oder mehrere Taxa verbinden und zugleich von allen anderen Taxa trennen. Ein solches homologes Merkmal nennt man eine Synapomorphie. An der Stelle im Stammbaum, an der dieses Merkmal das erste Mal auftritt und somit eine Neuerwerbung darstellt, wird es als Autapomorphie bezeichnet. Homologe Merkmale, die sich nicht zur Trennung und Abgrenzung eignen, sind gemeinsame ursprüngliche Merkmale. Sie werden als Symplesiomorphien bezeichnet. Ursprüngliche Merkmale eignen sich nicht zur Begründung von (kladistischer) Verwandtschaft.

 

Weitere wichtige Begriffe sind "Homoplasie", "Parallelismus" und "Konvergenz". Als "Homoplasie" wird eine Ähnlichkeit bezeichnet, die ihre Ursache nicht in gemeinsamer Abstammung hat (in älteren Werken vielfach als "Analogie" bezeichnet). "Homoplasie" ist der Sammelbegriff für "Parallelismen" und "Konvergenzen".

 

Als "Parallelismus" definiert man eine unabhängige Ausbildung übereinstimmender Strukturen auf der Basis von homologen (aus gemeinsamer Abstammung) hervorgegangen Strukturen. In dieser Weise hat sich z.B. die Stammsukkulenz mehrfach parallel aus der für die Kormophyten homologen und damit für alle Sukkulenten plesiomorphen normalen, nicht sukkulenten Sproßachse entwickelt. Auch die Umbildung der Vorderextremitäten zu Flossen bei Pinguinen, Seekühen, Walen und Robben ist ein bekanntes Beispiel für Parallelismus. Diese Art der Homoplasie wurde früher in Anlehnung an PLATE (1914) als "Homoiologie" bezeichnet.

 

"Konvergenz" bezeichnet dagegen die Ausbildung ähnlicher Strukturen aus ganz verschiedenen Bauelementen. Klassische Beispiele hierfür sind die Grabhand von Maulwurf und Maulwurfsgrille oder bei Pflanzen die aus Blättern oder Sprossen gebildeten Ranken.

 

Die Schwestergruppen (Adelphotaxa) eines Kladogramms entsprechen nicht immer den Stufen unseres Klassifikationssystems (Art, Gattung, Familie, Ordnung, u.s.w. mit ihren Untereinheiten). Die Vögel sind z.B. nicht eine Schwestergruppe der Reptilien insgesamt, sondern eine Schwestergruppe der Krokodile. Eine Gruppe, die wie die Reptilien zwar nach allgemeiner Auffassung von einer Stammart abstammt, aber nicht alle Abkömmlinge dieser Stammart umfaßt (die Vögel sind davon ausgeschlossen) bezeichnet man als paraphyletisch. Die möglichen Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb einer Gruppe werden durch die Begriffe "holophyletisch", "monophyletisch", "paraphyletisch" und "polyphyletisch" beschrieben. Als "monophyletisch" wird in der Regel eine Gruppe von Taxa bezeichnet, die alle von einer gemeinsamen Ausgangsform abstammen. Kladisten haben diese verbreitete und übliche Definition abgewandelt und bezeichnen als monophyletisch nur noch solche Gruppen, die alle von einer Ausgangsform abstammenden Taxa umfassen. Nach dieser (wesentlich engeren) Definition sind paraphyletische Gruppen nicht mehr als monophyletisch zu bezeichnen, da sie nicht alle von der Stammform abgeleiteten Taxa umfassen. In neuerer Zeit bürgert sich ein, für diese engere Fassung den Terminus "holophyletisch" zu benutzen. "Monophyletisch" ist dann als Überbegriff für "holophyletisch" und "paraphyletisch" anzusehen.

 

Der Einführung in die wichtigsten Gruppen der Landpflanzen soll das kladistische Prinzip der Analyse, nicht aber unbedingt eine kladistische Klassifikation zugrunde gelegt werden. Ein einfacher Stammbaum als Ausgangspunkt wird mit zunehmendem Überblick über Gruppen und Fakten immer komplizierter werden und sich dabei (hoffentlich) den natürlichen Verwandtschaftsverhältnissen immer mehr annähern, ohne sie jedoch zu erreichen.

 

Bevor jedoch die Verwandtschaft analysiert werden kann, müssen erst Formen vorgestellt und in vergleichbarer Weise beschrieben werden. Es ist daher notwendig, parallel zur Systematik auch in die Morphologie der Pflanzen einzuführen.

 

            



[1] Ein System, das ausschließlich auf der Zahl der Staub- und Fruchtblätter beruht und diese Zahlen auch als Bezeichnung für die danach gebildeten Gruppen verwendet, z.B. Triandria-Trigyna für alle Arten mit drei Staubgefäßen und drei Fruchtblättern.

[2] "in auswegloser Sexualnot” nennen das die Verhaltensforscher

[3] Zu jeder möglichen Art-Definition gibt es Beispiele, mit denen man sie ohne Schwierigkeit ad absurdum führen kann.    Soviel nur zu den Arten als dem Fundament auf dem die Systematik aufbaut. Ich will damit übrigens nicht die Systematik verunglimpfen, es sind meist Nichtsystematiker, die sich mit einer durch keinen Zweifel getrübten Selbstverständlichkeit auch auf systematische Lehrbücher älteren Datums berufen.

[4] W. Hennig (1913-1976), Promotion 1936 (mit 23 Jahren!), 1945-50 Professor für Zoologie in Leipzig, dann bis 1963 in Berlin und zuletzt am staatl. Museum für Naturkunde Stuttgart tätig.

[5] Auch so einfache Begriffe wie “ Merkmal” werden in unterschiedlichem Sinn verwendet, manchmal sogar innerhalb eines einzigen Textes. Meist   verstehen wir unter “Merkmal” etwas, was in verschiedenen “Merkmalszuständen” vorkommen kann. So ist z.B. die Blütenfarbe ein Merkmal, das in den verschiedenen Zuständen “rot”, “blau”, etc. vorkommen kann. Die Kombination aus Merkmal und Merkmalszustand wird dann als “Attribut” bezeichnet. Die Kladisten bezeichnen jedoch einen neu auftretenden Merkmalszustand (eine Autapomorphie) als Merkmal, und wenn wir “gelbe Blüten” als Merkmal für Osterglocken angeben, bezeichnen wir ebenfalls ein Attribut als Merkmal. Man kann nicht sagen, daß die eine Verwendung des Begriffes Merkmal falsch und die andere richtig wäre, es ist nur bedenklich, wenn beide Möglichkeiten nebeneinander her verwendet werden.